Mein Glueck
klingelte und sagte ihm, wie glücklich wir alle wären, wenn er als Gast vorbeikommen würde. Er klagte, sprach verzweifelt, meinte, dass wir ihm überhaupt nichts zu danken hätten, er sei immer ein Versager geblieben. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Kurze Zeit danach erfuhr ich, dass sich dieses überragende, eindrucksvolle Vorbild an Menschlichkeit in seiner Wohnung erhängt hatte. Das Geheimnis seiner Verzweiflung haben wir nie erfahren. Ging es darauf zurück, dass er während der Hitlerzeit an der Napola in Backnang unterrichtet hatte?
In den Gesprächen mit Böheim wurde mir bewusst, wie spannend Kunstgeschichte sein konnte. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung. Er gab mir seine Dissertation »Das Landschaftsgefühl des ausgehenden Mittelalters« zu lesen. Der Titel, der anzeigte, dass sich Gefühle datieren lassen, zog mich an, und diese Erkenntnis half mir, das eigene vage Sehnen zu ordnen. Was ich in dieser Publikation über die Wanderlandschaften erfuhr, ging weit über den Inhalt einer kunsthistorischen Untersuchung hinaus. Vor allem der ungewohnte Begriff Wanderlandschaft beschäftigte mich. Die Art und Weise, wie in Böheims Untersuchung Bilder erlebbar wurden, die für das vagabundierende, sich mehr und mehr verabsolutierende Auge gemalt worden waren, berührte mich damals stark. Die Arbeit führte in eine Zeit, in der das künstlerische Sehen noch nicht von der Zentralperspektive an die Leine genommen und diszipliniert worden war. Das Diffuse, ja Unordentliche des Themas, die Möglichkeit, mehr oder weniger frei von einer Empfindung zur anderen zu springen, empfand ich als mir entsprechend. Entscheidend waren jedoch der Einsturz der vagen Empfindung und die Feststellung, dass jeder Baum, jedes Haus, jedes Gesicht in diesen Bildern für sich einen Wert besaßen. Erst die Zentralperspektive sollte die Welt dem Menschen verfügbar machen. Vorher war das Sehen frei und vermochte sich an das einzelne zu heften, das zur Spielfigur einer unendlichen Kombinatorik wurde. Nichts floss ins andere über. Jedes Ding, jeder Mensch blieben getrennt vom anderen. Die Beschäftigung mit dieser Form von Landschaft, die ich Böheim verdanke, war für mich ein Ansporn, zu einer Art Disziplin des Auges zu finden. Diese Lektüre und meine Unterhaltungen mit dem Deutschlehrer steigerten mein Interesse für die Kunstgeschichte mehr und mehr. Die Klarheit und Verifizierbarkeit ihrer Beschreibungen zogen mich an. Begeistert eignete ich mir rasch die neue Terminologie an. Vor allem gefiel mir, dass sich diese Sprache in erster Linie auf die Architektur bezog. In diesem Bereich war alles begrenzt und begründet. Das tat mir gut. Und nach wenigen Wochen bot ich meinen Kameraden an, ihnen abends Lichtbildervorträge über romanische und gotische Architektur zu halten. Was mich dabei besonders interessierte, war die Logik, mit der beim Bauen technische Neuerungen realisiert wurden. Der Entwicklungsbegriff, auf den ich im Umkreis des Übergangs von der Romanik zur Gotik stieß, war bestechend und ließ sich ohne große Mühe anderen verständlich machen.
Das alles ging anfangs ganz gut. Es kam zu einer Reihe von geordneten, anregenden Abenden. Doch bald merkte ich, dass meine Initiative von dem einen oder anderen Mitschüler überhaupt nicht goutiert wurde. Manche machten sich über mich lustig, empfanden das, was ich anbot, als inakzeptable Streberei. Und alles, was nach Ehrgeiz aussah, was von Initiative zeugte, wurde vom Gros der Gemeinschaft verachtet und öffentlich kritisiert. Ich verzichtete aus diesem Grund sehr schnell darauf, etwas von meiner Begeisterung mitzuteilen und weiterzugeben. Was ich in dieser Zeit vor allem merkte, war, dass die Nähe zur Theologie die Menschen nicht unbedingt menschlicher macht. Erfreulicherweise hatten wir in den zwei letzten Jahren vor dem Abitur auch einen herausragenden Französischunterricht. Literarische Texte, darunter auch eher schwierige Passagen von Paul Valéry über den Begriff der »civilisation«, anhand derer die Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Mentalität ausgemacht werden sollten, wurden bevorzugt ausgewählt. Sie sollten außerdem den Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Sprache deutlich machen. Es gab an unserer Schule immer wieder Versuche, die Andersartigkeit der tiefen deutschen »Kultur« hervorzuheben. Nicht akzeptabel schien mir, dass der eine oder andere unserer Lehrer Thomas Mann nicht als Dichter,
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