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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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er einmal ohne Hemmung, dieses eingemachte Kalbfleisch mit Gemüse sei doch seinen Unterlagen zufolge bereits während des vorletzten Aufenthalts bei uns serviert worden. Für ihn sammelte unsere Familie in Rottenburg in der kalten Jahreszeit auf den Wiesen und an den Bächen Deckelschnecken und ließ sie zum »Benedikttag« am 21. Dezember ins Klöpferhaus tragen. Obwohl er ein überzeugter Protestant war, übernahm er von seiner katholischen Familie gerne den Brauch, »Namenstage« zu begehen. Selbstverständlich waren außergewöhnliche Genüsse allein dem Großvater vorbehalten, getreu dem Kochbuch für einfache Familien, das Max Ernst in Maloja einmal bei seinem Freund Alberto Giacometti entdeckte und aus dem er gerne ein schlichtes Rezept für die Hausfrau zitierte, das mit dem Satz endet: »Und für den Vater eine Wurst.« Eine Nachbarin hatte der Großmutter verraten, dass sich der Geschmack einer Suppe entscheidend verbessern ließe, wenn man im Topf ein Stückchen Schwamm mitkoche. Beim Mittagessen stieß der Großvater in seinem Teller auf diese Zugabe und warf erbost Schwamm und Suppenschüssel in den Garten. Auch ich empfand in dieser Zeit erstmals so etwas wie eine kulinarische Lust, und zwar am Schwarzwaldhonig, der sich grünlich und dickflüssig auf dem Butterbrot ausbreitete. Später habe ich unentwegt nach diesem Geschmack gesucht. Er wurde für mich zur Proust’schen »Madeleine«, dem Gebäck in Form einer Jakobsmuschel, das als Auslöser der Erinnerung dient. Man fand diesen Honig in keinem Hotel zum Frühstück, auch nicht in Baden-Baden im Brenner’s. Man besorgte mir dort immer neue Sorten. Keine führte mich zum unverwechselbaren Geschmack der Kindheit zurück. Auch im Internet habe ich meine Hilferufe versandt. In einem Brief wurde mir von der Imker-Innung erklärt, der echte Schwarzwälder Tannenhonig habe überhaupt gar keine grünliche Färbung. Ich ließ mir dies jedoch nicht ausreden. Auf einer Fahrt durch Calw, der Geburtsstadt meines Freundes Peter Klaus Schuster, glaubte ich schließlich, das erste Mal den Nachgeschmack meiner Kindheit wiedergefunden zu haben, und zwar an einem Marktstand, der gegenüber dem Haus lag, in dem Hermann Hesse zur Welt gekommen ist. Doch irgendwann begann mir zu dämmern, dass dieser »richtige« Honig nicht mehr als eine Fiktion war, dass es ihn gar nicht geben konnte und dass es auf ihn letztlich auch gar nicht ankam. Inzwischen wusste ich, dass sich Prousts »mémoire involontaire«, seine »unwillkürliche Erinnerung«, gleichfalls an einer Täuschung entzündet hatte. Denn die »Madeleine« soll in Wirklichkeit nichts anderes als ein Stück Zwieback gewesen sein, über das sich eine unstillbare Sehnsucht legte.
    Die Ordnungsliebe des Großvaters Benedikt war mehr als penibel. An seiner Kleidung tolerierte er kein Stäubchen, und regelmäßig zu Beginn der Ferienzeit wurden die Enkelkinder auf dem Hof im Vorgarten verteilt, wobei jedes auf einem gleich großen Terrain alle Gräschen und jede Tannennadel entfernen musste. Das war nichts für mich, und ich erinnere mich, dass ich in diesem Zusammenhang von der Tante Dorle, einer an sich sehr frohen und lebenslustigen Rheinländerin, erstmals in meinem Leben eine Ohrfeige bekam. Offensichtlich hatte sie Angst, dass der gestrenge Hausherr ihr mangelnde Aufsichtspflicht vorwerfen würde. Zur Belohnung unseres Tuns durften wir zuschauen, wie der akkurate Großvater auf seinem Schreibtisch den Vorrat an Toilettenpapier auffrischte. Er legte dazu eine Art von Millefeuille an. Aus drei verschiedenen Papiersorten formte er einen Stapel. Wie bei Bleistiften gab es die Stufen hart, mittel und weich. Seine Strenge beeindruckte und ängstigte uns Kinder. Als mein Vetter Erich sich eines Tages am Spalierobst hinterm Haus vergriff und eine Birne abriss, bemerkte dies der Großvater sofort. Denn er führte über die Anzahl der Früchte ständig Buch. Er bestrafte den Kleinen, indem er ein geschlagenes Jahr lang kein Wort mehr an ihn richtete. Erst nachdem diese Zeit verstrichen war, durfte sich mein Vetter Erich erneut dem Großvater nähern.
    In dieser Umgebung regierte auch die jüngste Schwester meiner Mutter, die Tante Marianne. Sie lebte in ständiger Exaltation. Das sah man an ihren Augen, die gefährlich vor dem Kopf kugelten. Die Tante suchte das Höhere. Auch wenn sie zumeist nicht wusste, wie dieses aussehen sollte. Ich nannte sie später unsere verhinderte Madame Bovary. Und ich erinnere mich, dass ich

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