Mein Glueck
Besuch bei einer Freundin machen zu wollen. Aufs Geratewohl sah ich mich von vielen Kindern umringt. Wir spielten und aßen zu Abend. Ich erinnere mich an das wunderbare Herz des Kopfsalats, das man mir auf den Teller legte. Doch meine Begleiterin war heimlich und unbemerkt abgereist und hatte mich mit dem panischen Gefühl des Verlassenwordenseins zurückgelassen. Ich war damals nicht älter als vier Jahre alt und sicherlich ebenso verzweifelt wie Johanna Spyris Heidi, als die Tante Dete sie von ihrer Schweizer Alm nach Frankfurt zu den Sesemanns verschleppt. Immer noch sehe ich vor mir den dunklen Abend und die schwankenden, brausenden Tannen, den schwarzen Wald hinter dem Kinderheim, in dem man, um uns Angst zu machen und ja im Haus zu halten, alle bösen Wölfe und Raubvögel aus dem Märchen vermutete. Es ist eine Stimmung, die ich in den Filmen von David Lynch wiedergefunden habe, im unheimlichen Brausen und Herumfingern der Douglastannen. In Schramberg regierte der Großvater, der in der Uhrenfabrik Junghans einen Verwaltungsposten innehatte, der es ihm gestattete, mir nach Ende des Krieges bunte, fremdländische Briefmarken zuzustecken. Sehr früh verband sich meine Erinnerung an den Aufenthalt in der Uhrenstadt mit dem, was ich aus Wilhelm Hauffs Märchen »Das kalte Herz« kannte. Es blieb meine Lieblingsgeschichte aus der Rahmenerzählung Das Wirtshaus im Spessart , und was ich hier erfuhr, war für mich von Beginn an mehr als ein Märchen. Denn eigentlich interessierte mich nichts mehr als der Zerfall, die Abschaffung des Märchenhaften, das ich suchte, in Realität umzuwandeln. Die Ausflüge ab Schramberg führten in die Gegend der hohen, düsteren Bäume des Hochschwarzwalds, in dem auch das Sonntagskind Kohlenmunk-Peter seine Wünsche verspielt. Glasmännchen oder Holländer-Michel konnten in dem uferlosen Wald hinter jedem Baum hervorspringen. Die Geschichte vom Hirschgulden und vom Mann, der bereit ist, sein Herz gegen Geld und Macht einzutauschen, ließ mich nicht los. Fortwährend ist in der Geschichte vom »Kalten Herz« von Geld, Gold und Handel die Rede. Sicherlich nimmt Hauff dabei auf den Frühkapitalismus Bezug, der damals in die süddeutschen Gegenden einzog. Für mich verband sich manches im Märchen konkret mit dem Leben in den Nachkriegsjahren, mit dem Schwarzmarkt und dem Hamstern, das uns in die Dörfer zwischen den Wäldern trieb. Dort wechselten wir zwar nicht unsere pochenden Herzen gegen eines aus »Marmelstein« und hunderttausend Gulden ein. Aber wir tauschten Uhren, Schmuck oder Bettwäsche, die uns der Großvater mitgegeben hatte, gegen Eier, Butter und Schwarzwälder Speck. Auf diese Weise wurde der Großvater für mich zum personifizierten Schatzhauser, zum rettenden Glasmännchen. Bereichert wurde diese Erinnerung in den letzten Jahren durch die Begegnung mit Rebecca Horn, die, wie das Glasmännchen, mit Phiolen und Reagenzgläsern operiert. Pulsierende, heiße Herzen, Glastrichter, Hämmerchen, deren Schlagen erst Millimeter vor der Katastrophe innehält, dies alles führt mich zu dem Kind zurück, das die Entdeckung der Welt Rebecca Horns, der blauen Stunde der »Belle de Jour«, noch vor sich hat. Zeitmesser, Glas und Fragilität passten zum Aufenthalt in der Schillerstraße, zu Schramberg und zu seiner berühmten Uhrenfabrik. Und nicht von ungefähr zählt zu meinen frühesten Erinnerungen jene an den zerbrechlichen Topf aus Glas, auf den die Tanten in der Schillerstraße die Kinder setzten. Der Großvater war ein Mensch, den wir fürchteten und zugleich auf distanzierte Weise liebten. Alles hier war geordnet, auch die Familienfotos, die ein Fotograf anlässlich einer größeren Feierlichkeit von allen im Garten aufnahm. Im Umgang mit dem Großvater gab es so gut wie keine Zärtlichkeit und keine Kosenamen. Alles an ihm war streng. Dazu gehörte auch der weiße Stehkragen, ohne den er sich nie zeigte. Und zum »Vatermörder« passte auch das ständig frisch und sorgfältig rasierte Gesicht, dem anzusehen war, dass es, im Unterschied zu denen der Männer seiner Generation, nie einen Bart getragen hatte. Auch fiel mir auf, dass er eine helle, überaus weiche Haut hatte. Er galt als Genießer, und die Großmutter tat alles, um seine Gelüste zu befriedigen oder ihn mit neuen Rezepten zu überraschen. Jeder Besuch des Großvaters in Rottenburg soll für meine Mutter beängstigend gewesen sein. Er notierte zeitlebens täglich das, was auf den Tisch kam. Und angeblich erklärte
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