Mein Glueck
Neue Briefmarken, Häuser, die in der Stadt restauriert wurden, Geschäfte, die eröffneten, Jubiläen, Verkehrsunfälle, Diebereien, das waren die großen Themen. Historie interessierte nicht. Man hatte den Eindruck, Krieg, Nationalsozialismus und Römerzeit würden in dieselbe weite Ferne geschoben. Es ist heute unvorstellbar, mit welcher Genugtuung und Gier man mitfieberte, wenn in den alten, völlig erhaltenen, wunderbar proportionierten Häusern der Innenstadt reihenweise das Erdgeschoss herausgerissen wurde, um Platz für riesige Schaufenster zu schaffen. Die Stadt schien wie auf einem gläsernen Sockel zu schweben. Und man bekam den Eindruck, als wolle das ganze Land von der Zerstörung profitieren, um sich einen modernen Anstrich zu geben. Auch ich fand nichts dabei, in meinen Artikeln die Renovierungen – man sprach gerne von Neurenovierungen – der Geschäfte zu preisen, die letztlich einen Teil der alten Bausubstanz der wunderbaren ehemaligen Reichsstadt für immer zerstörten. Ich erinnere mich nicht, dass in diesen Jahren von irgendeiner Seite Protest laut geworden wäre. Die alten Lampen, Sessel und Tische in Cafés und Restaurants, die Einrichtungen von Apotheken und Kurzwarengeschäften, alles kam auf den Müll. Nichts schien die Zeit mehr zu belasten als Patina, die Patina der Objekte und die Patina, die sich über zwei Generationen gelegt hatte. Man wollte klare Schnitte. Ich war überrascht, etwas von diesem Zeitgeist und seiner Selbstverstümmelung selbst in Basel wiederzufinden. Man hatte den Eindruck, jede Stadt wollte wirken, als sei sie bombardiert worden.
Einem Lehrer in Rottweil, Dankwart Schmid, die von vielen gefürchtete »Spitzmaus«, den ich nach dem Abitur regelmäßig traf und der sich weiterhin ernsthaft um mich und meine Zukunft kümmerte, antwortete ich auf die Frage, was ich denn nun werden wolle, mit der Berufsbezeichnung »Kulturschriftsteller«. Ich hatte keine besondere Vorstellung, wie diese Tätigkeit aussehen könnte, doch der sonst eher spöttische und kritische Lehrer hörte sich meine Pläne an, und er ermutigte mich, an meinem Vorhaben festzuhalten. Auf alle Fälle, so versicherte ich ihm, suche ich keine Lebensstellung. Dies sei etwas für mutlose Sichtotsteller. Für mich verhieß der bizarre Begriff »Kulturschriftsteller« eine Art platonischer Daseinsform, die es mir gestatten würde, die unsaubere und fragwürdige Realität zu meiden. Denn ich muss zugeben, dass ich zu jener Zeit von Politik und Wirtschaft nicht nur nicht die geringste Ahnung hatte, sondern beidem sogar Verachtung entgegenbrachte wie die meisten meiner Mitschüler im Konvikt, die wie ich in eine absolut gleichgültige Haltung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft gepresst worden waren. Ökonomie war hier nicht mehr als der Ertrag aus Kirchensteuer und Klingelbeutel. Auch beeindruckte mich, dass ein Freund, den ich damals in Bad Cannstatt kennenlernte, mit Max Kommerell verwandt war. Und das Odi-profanum des George-Kreises war zudem Nahrung für die Einstellungen, die mir damals näherstanden als jeder Einsatz für Gesellschaft und Politik. Erst während des ersten Aufenthalts in Paris, bei den Demonstrationen gegen die Algerienpolitik der französischen Regierung, wurde mir diese schreckliche Blindheit bewusst, mit der wir geschlagen gewesen waren.
In Paris waren es die neuen Bekanntschaften, Philipp Sollers, Jean Thibaudeau, Jean-Pierre Faye, Jean Ricardou, Jean Edern Hallier, die Gruppe um Tel Quel , die mich auf die Straße, zu den Kundgebungen mitnahmen. Es war dies alles andere als ein harmonischer Kreis. Zusammengehalten wurde er von gegenseitiger Herausforderung und sogar Hass. Nur ein Mythomane und genialer Provokateur wie Jean Edern Hallier war dazu in der Lage, auf dem Schreibtisch seines Rivalen Sollers eine krepierte Ratte zu deponieren. Was sie alle schrieben, erschien mir wie das Werk einer Verschwörerbande. Es galt in diese Sprache einzudringen, ohne Opfer der unzähligen Nebenbedeutungen zu werden, die diese barg. Mit der gleichen Gruppe erlebte ich später auch den Mai 68.
Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ die Begegnung mit Tristan Tzara Anfang der sechziger Jahre in seiner Wohnung 5, rue de Lille. Es war dasselbe Haus, in dem zu diesem Zeitpunkt auch Jacques Lacan wohnte. Der Ort erschien in jeder Hinsicht geheimnisvoll. Nicht zuletzt hatte hier, wie ich von Philippe Sollers erfuhr, auch der Bankier Darasse gelebt, bei dem Lautréamont, der Autor der Chants de
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