Mein Glueck
titellos mehr als kryptisch bleibt. Als wir in der Pariser Dada-Ausstellung auf einen »Kopf« von Hans Arp stießen, reagierte Max Ernst verärgert: »Das ist lächerlich. Das Relief war früher in der Sammlung Bretons. Und Arp hatte ihm den Titel ›Der Euter läutet an dem Wasserast‹ gegeben.« Und er setzte hinzu: »Alle Freunde kannten den Titel. Jede Arbeit Arps hatte einen Hintergedanken.« Wenige Jahre später, als ich an meinem Buch über die Collagen Max Ernsts arbeitete, versuchte ich Darstellungen und Legenden, die die Bibliothek Jacques Doucet verwahrte, zu kollationieren. Max half mir dabei. Dabei bedauerte er sehr, dass ich seinen wunderbaren Freund Hans Arp nie kennengelernt hatte. Immer wieder sprach er von dessen Leichtigkeit und spöttischem Wesen. Hierzu gehört auch Max Ernsts Bemerkung darüber, dass während des Ersten Weltkriegs bei jeder französischen Siegesmeldung das Kniewasser des Freundes moussiert habe. Einmal seien sie im Zug zwischen Deutschland und Frankreich unterwegs gewesen. Da habe Arp begeistert gerufen: »Jetzt sind wir in Frankreich. Schau, in den Bäumen gibt es Misteln. Das wäre auf der anderen, reinlichen Seite des Rheins völlig undenkbar.« Bei meinem Besuch in der Rue de Lille riss mich Tzara am späteren Nachmittag unerwartet aus der Bewunderung seines Lebens und seiner Sammlung und meinte, es sei nun an der Zeit, zu den Freunden und Genossen auf dem Boulevard zu gehen. Die große Demonstration war eine Reaktion auf den 17. Oktober, dem Tag des brutalen Massakers an dreihundert Algeriern, für das der Präfekt Maurice Papon verantwortlich war, der früher die Deportation von Juden nach Auschwitz veranlasst hatte. Dieses frühere Verbrechen wurde nie geahndet. Die Demonstration, eine der vielen in diesen Monaten, die den Verträgen von Evian vorangingen, machte deutlich, wie dieser achtjährige Kolonialkrieg das Land gespalten und an den Rand des Bürgerkriegs geführt hatte. Ständig detonierten Sprengladungen in der Hauptstadt, so auch in der Wohnung unseres Freundes Jean-Jacques Mayoux, den wir durch Beckett kennengelernt hatten und bei dem Monique an der Sorbonne eine Arbeit über Coleridge vorbereitete. Über zwei Millionen Wehrpflichtiger wurden in diesem fast acht Jahre andauernden Krieg nach Algerien geschickt. An die fünfundzwanzigtausend fielen. Was darauf folgte – die Unabhängigkeit Algeriens, der Zusammensturz des französischen Empire, die Vertreibung von einer Million Menschen aus den ehemaligen Übersee-Departements ins Mutterland – wurde von Frankreich wie betäubt registriert, geschweige denn bewusst erlebt. Wie das Regime von Vichy wurde auch dieser Teil der eigenen Geschichte lange Zeit verdrängt. Am Tag der Demonstration im November 1961 schrieb Tzara mir eine liebenswürdige Widmung in die Buchausgabe des Stücks La fuite ( Die Flucht ), dessen Uraufführung im Théâtre du Vieux-Colombier seltsamerweise die Dadaisten der Stunde, die Lettristen unter Isidore Isou, gestört hatte. Er überreichte mir mit Bedacht dieses Stück, in dem er sich innerhalb seines Werks am konkretesten mit einer politischen Realität auseinandersetzte, nämlich mit dem spanischen Bürgerkrieg und dem Exodus, der in Frankreich nach dem Angriff der Deutschen einsetzte.
Von allem Politischen war ich vor dieser Zeit in Paris, wie gesagt, meilenweit entfernt gewesen. In Rottweil und später in Stuttgart führten allein einige persönliche Verbindungen zu einem vagen Interesse. Dazu gehörte die Bekanntschaft mit Bruno Heck, dem späteren Bundesgeschäftsführer der CDU, der einst auch zu den Rottweiler Konviktoren gehört hatte und als ehemaliger Studienassessor am Albertus-Magnus-Gymnasium freundschaftliche Beziehungen zur Stadt unterhielt. Er nahm mich einmal mit zu einem öffentlichen Auftritt von Franz Josef Strauß in Tuttlingen, der mich ebenso beeindruckte und erschreckte wie kurz zuvor der des »Maschinengewehrs Gottes«, des Jesuitenpaters Johannes Leppich. Dieser hatte die Zöglinge des Konvikts mit seiner eschatologischen Prophezeiung auf dem voll ausgefüllten Marktplatz in Schwenningen mit seiner Predigt »Europa im Fieber« auf so unerhörte Weise in Angst versetzt, dass auf der ganzen Rückfahrt im Omnibus kein einziges Wort fiel. Rottweil wurde für mich, nicht zuletzt durch die Nähe zu Schramberg, zur emotionalen Heimat. Und während dieser zwei Jahre bei der Zeitung gelang es mir auch fabelhaft, weiter in meiner gefährlichen Traumwelt zu leben, bis
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