Mein Glueck
Und in einem anderen Brief aus dem Jahr 1952 an die Familie war zu lesen: »Über das gute Zeugnis von Werner habe ich mich sehr gefreut. So ist’s recht. Er soll nur immer so weiterarbeiten, dann kommt er mal später zu mir zu den Wilden und kann mich in der Arbeit ablösen.« Doch er allein hatte später Verständnis dafür, dass ich nach dem Abitur nicht sofort mit dem Theologiestudium beginnen wollte. Denn die Voraussetzungen erfüllte ich alle. Auch das medizinische Examen, das vom bischöflichen Ordinariat verordnet wurde, hatte ich ebenso wie meine Kameraden glänzend bestanden. Ich durfte dabei als Schriftführer fungieren. Während der Arzt hinter einer spanischen Wand untersuchte, abklopfte, Plattfüße konstatierte, hatte ich seine Kommentare zu notieren, musste selbständig in Reagenzröhrchen den Urin auf Zucker untersuchen und gegebenenfalls die vom Arzt verkündete Voraussetzung für künftige Päpste, »Duos habet et bene pendentes«, eintragen. Mein Onkel übernahm es schließlich, meine Zweifel an der Berufung dem Vater und der Stiefmutter beizubringen und zu erklären, ich bräuchte noch eine Bedenkzeit. Für sie drohte damit damals offensichtlich eine Welt zusammenzustürzen. Beide träumten von einem Lebensabend im Pfarrhaus. Dieser eindrucksvolle, generöse Mann, der mein Onkel war, nahm keinerlei Anstoß daran, dass ich einige Jahre lang in meinem Drang nach Freiheit und in meinen vagen Plänen richtiggehend flottierte. Als erster machte er mir klar, dass wir unsere eurozentrische Lebensweise nicht beibehalten dürften. Er beklagte sich bitter über den Kolonialismus und die Ausbeutung. Um nichts auf der Welt war er dazu bereit, nach Europa zurückzukehren und dem Ruf zu folgen, als Erzabt das Kloster Sankt Ottilien in Oberbayern zu leiten. Seine soziale und theologische Verpflichtung für die Diözese Peramiho im südwestlichen Tansania war ihm wichtiger. Im Grunde lebte er das vor, was ich später im Umgang mit Leiris, Lévi-Strauss, Max Ernst und dem Surrealismus als profunde, verzweifelte philosophische Zivilisationskritik erfahren habe. Er ist mir als großzügiger Mensch in Erinnerung geblieben, der die Scheinheiligkeit seiner Zunft nicht ausstehen konnte. Immer wieder erhielt ich lange Briefe aus Ostafrika, in denen er sich nach dem erkundigte, was mich beschäftigte. Ich werfe mir immer noch vor, dass mir der nötige Mut fehlte, seiner Einladung in das Gebiet südlich von Daressalam bei Lindi zu folgen, in einen Landstrich, dessen Boden der Bauxit blutrot färbt. Mein Neffe Hans-Christoph, der Sohn meiner Schwester Elfriede, fuhr wenige Jahre vor dem Tode des Onkels dorthin. Was er mir schilderte, zerstörte all die Vorstellungen, die ich von einem exotischen Paradies à la Gauguin in mir errichtet hatte. Die Souveränität des Onkels konnte ich auch in Rom beobachten, wo er am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahm, wobei er keineswegs auf Kritik an der saturierten Kirche verzichtete.
Erste Freiheit – Studienjahre
Nach dem Abitur wollte ich zunächst nur frei sein, nachdenken. Das Studium der Theologie hatte ich damals noch keineswegs abgeschrieben. Zusammen mit einem Studienkameraden, Reinhold Storkenmaier, der meine Vorbehalte und Zweifel teilte, erbat ich mir jedoch vom bischöflichen Ordinariat in Rottenburg eine Bedenkzeit, um in einer Fabrik in München zu arbeiten. Dass wir während dieser Zeit ganz frei über unser Leben bestimmen konnten, steigerte nur unsere Ambitionen, und wir waren uns völlig sicher, dass wir diese »Probezeit« glänzend überstehen würden. Die Universität sollte warten. Selbstverständlich wurde unser Antrag mit den üblichen Segensgrüßen abgeschmettert. In den bischöflichen Amtsstuben im Rottenburger Ordinariat witterte man die Ausbreitung eines französischen Bazillus namens Abbé Pierre. Von diesem Priester wie überhaupt von der bewundernswerten Armut und Anspruchslosigkeit der französischen Kirche sprach man zwar in den höchsten Tönen. Gegen das Aufrührerische und Politische jedoch, das die Amtskirche hierin witterte, sollte uns die bequeme, wohlbestallte Sofaklerisei in der Bundesrepublik auf immer impfen. Ich sah mich, nachdem mein Gesuch abgelehnt worden war, in Rottweil um und bekam eine Stelle als Volontär beim Schwarzwälder Volksfreund , einem Kopfblatt der Schwäbischen Zeitung . Schnell schloss ich mich dem Geist der Stunde an, nichts von der Auseinandersetzung mit der Geschichte, sondern alles von der Zukunft zu erwarten.
Weitere Kostenlose Bücher