Mein Glueck
durch ihren Geiz, der alles übertraf, was ich je erlebt hatte. Als ich mit Erfolg das Abitur bestanden hatte, lud sie mich ein, beglückwünschte mich und gab mir zehn Pfennige für ein Eis. Zwei angesehene Architekten gehörten auch zu den Verwandten. Der eine, Otto Ernst Schweizer, ein Hauptvertreter des Neuen Bauens und Mitglied des Deutschen Werkbunds sowie Teilnehmer der Internationalen Kongresse Moderner Architektur, hatte 1930 den berühmten, 2009 wieder abgerissenen Milchhof in Nürnberg errichtet, und Ludwig Schweizer, sein Neffe, war der Mann, der das »Wunder von Freudenstadt« vollbracht hatte. Er baute die von den Truppen der französischen Ersten Armee unter Lattre de Tassigny zu fünfundneunzig Prozent niedergebrannte Stadt mit dem größten Marktplatz Deutschlands wieder auf und hielt sich dabei an die ursprünglichen Grundrisse. Ich erwähne diesen Maréchal Lattre de Tassigny, weil die Straße, in der ich heute in einem Vorort von Paris wohne, den Namen dieses Marschalls trägt, den ich wie kaum einen anderen Franzosen in meiner Kindheit und Jugend zu hassen und zu verachten lernte. Mit Lattre de Tassigny stand in meinen Augen der Mordbrenner Mélac wieder auf, der während des Pfälzer Erbfolgekriegs weite Teile der Kurpfalz und Städte wie Heidelberg und herrliche Klöster wie Hirsau zerstört hatte. Lattre de Tassigny soll damals gesagt haben, Freudenstadt mit seinen Fachwerkhäusern könne ruhig drei Tage lang brennen. Das passte zu dem, was uns Kindern während des Kriegs über die Franzosen und die Erbfeindschaft eingetrichtert worden war. Die Franzosen seien feige, unzuverlässig, »der Franzos’ mit der roten Hos’« hätte uns Deutsche einfach auf ewig gefressen. Dabei seien sie nicht einmal in der Lage gewesen, allein gegen uns Krieg zu führen. Immer hätten sie sich hinter Amerikanern, Engländern und Soldaten aus den überseeischen Kolonien verstecken müssen. Niemand machte auch nur den leisesten Versuch, an diesen Klischees zu rütteln. Kein Wunder, dass in der Nachkriegszeit der Französischunterricht damit begann, dass uns der Lehrer Konstantin Hagenmayer mit einem steifen Bein, das er aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht hatte, aufforderte, mit Daumen und Zeigefinger fest unsere Nasen zuzukneifen und »Jardin« zu sagen. Der nasale, meckernde Laut, der bei der Wiedergabe der Endsilbe zustande komme, sei der wichtigste und verbreitetste Laut der fremden Sprache, die uns von nun an beigebracht werden sollte. Abgesehen davon behagte mir der Unterricht bei Hagenmayer, den wir »Grumbier«, Kartoffel, nannten. Ich lernte im Schulbuch bald die Familie Dupont mit ihren sechs Kindern, die Durand, Onkel Casimir, die Martignac und den Elsässer Fritz Hickel kennen, die mich in alle nur denkbaren Lebenslagen entführten und mich von nun an wie Freunde begleiteten. Es war eine Freude, dass ich diese Gesellschaft später, 1971 , in Ludwig Harigs köstlichem und tiefkomischem Familienroman Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes wiederfand. Freund »Luckl«, so der Spitzname Ludwig Harigs, den ich über Helmut Heißenbüttel, Max Bense, der mich 1964 einlud, am Institut Français über Kahnweiler zu sprechen, und auch durch Günter und Sigrid Metken kennengelernt hatte, war einer, der wie ich selbst nach dem Krieg auf glückliche Art zwischen Frankreich und Deutschland hängengeblieben war.
Mein Elternhaus auf väterlicher Seite kannte ich weniger. Meine älteren Geschwister fuhren regelmäßig auf den großen Bauernhof nach Ertingen, das in der Nähe von Riedlingen liegt. Sie halfen dort bei der Ernte. Später fuhr ich ab und zu mit dem Fahrrad über Reutlingen, die Honauer Steige und über ein sich endlos hinziehendes Plateau in die Heimat meines Vaters. Den außergewöhnlichsten Eindruck machte hier auf mich der Besuch der Klosterkirche in Zwiefalten am südlichen Ausläufer der Schwäbischen Alb. Das spätbarocke Münster, der Bau Johann Michael Fischers, überwältigte mich jedes Mal aufs neue. Der Farbenrauch, in dem man als Besucher verschwand, hatte etwas Verwirrendes. Von nun an suchte ich nach etwas, das die halluzinatorische Brandung im Innenraum von Zwiefalten noch übertreffen konnte. War es Steinhausen, Birnau, die Wies, Ottobeuren oder der Bibliothekssaal in Schussenried? Auf alle Fälle gehörte der Besuch dieser Orte zu dem, was ich später den französischen Freunden richtiggehend als Pflichtprogramm
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