Mein Glueck
auf eine Nacht, in der ich die Matrizen für die kommende Ausgabe der Zeitung in Empfang zu nehmen hatte. Der Verlag in Rottweil druckte nach dieser Art von Vorlagen, denen noch die eigene Produktion von zwei oder drei Lokalseiten zur Seite gestellt wurde, den Schwarzwälder Volksfreund . Die Seiten der Zentralredaktion, die die Ressorts Politik, Wirtschaft und Überregionales betrafen, wurden jeweils per Kurier aus Leutkirch angeliefert und waren aufgrund dieser logistischen Verzögerung nie mehr auf dem aktuellsten Stand der Nachrichten. Ich hatte an diesem Abend im Radio mitverfolgt, wie der Aufstand in Ungarn von den Sowjets niedergeschlagen wurde. Ich beschloss, diese Meldung auf der Seite, die den örtlichen Lokalnachrichten vorbehalten war, mit großen Schriftzeichen einzurücken. Bald brachte ich es fertig, hin und wieder für die Zeitung nach Stuttgart fahren zu dürfen, um über eine Aufführung an der Stuttgarter Oper zu berichten. Dazu zählte Carl Orffs »Antigone« im Stuttgarter Staatstheater, bei der Wieland Wagner Regie führte und Ferdinand Leitner dirigierte. Damals hörte ich auch erstmals das Wunder Fritz Wunderlich. Im September 1966 erlebte ich hautnah den Schmerz und die Trostlosigkeit, in die Wunderlichs Freund Hellmuth Karasek nach dessen tödlichem Sturz auf einer Treppe in Oberderdingen im Kraichgau verfiel. Über den Kontakt zu Wunderlich hatte ich zuvor eine Karte für »Tristan und Isolde« bekommen. Nichts hatte mich in meinem Leben derart entflammt wie diese Inszenierung von Wieland Wagner, der die Stuttgarter Oper immer wieder als Probebühne für Bayreuth nutzte und sie so mit großartigen Aufführungen beschenkte. Martha Mödls Stimme der Finsternis, Wolfgang Windgassen und Gustav Neidlinger bleiben mir tief in Erinnerung. Hier gab es keine überflüssigen Bewegungen oder Ablenkungen. Quietistisch in ihrem Leid, regelrecht tetanisiert standen die Sänger auf der Bühne, vor einem roten Riesensegel, das sich öffnete und wieder schloss. Allenfalls ein Vibrato sorgte dafür, dass sie sich in ihrer Leidenschaft beinahe unmerklich bewegten. Literatur, Kunst und Musik waren alles für mich damals. Sie waren auch stete Basis für die innigste Freundschaft meiner Jugend, die mit meinem Konviktskameraden, Hermann Michael. Und noch zwei weitere kunstbesessene Mitschüler stießen in den letzten Jahren im Konvikt zu uns. Wir gründeten eine Art Geheimclub, der mich für die zwei ersten unerfreulichen Jahre im Internat mehr als entschädigte. Unser Versteck richteten wir auf dem riesigen Dachboden des Heims ein. Zwischen Umzugsgut, Möbeln, Bücherstapeln, Geräten, die dort oben seit Jahrzehnten lagerten, suchten wir uns eine schalldichte Höhle, von der keiner im Hause etwas wissen durfte. Nachts schlichen wir uns dorthin, tranken kalten Kakao und verbrachten Stunden mit Diskussionen über die Welt und vor allem über Gott. Kierkegaards Furcht und Zittern beschäftigte uns anhaltend. Das Buch begleitete unsere aufkommenden Ängste, die durch die zunehmende Brüchigkeit unserer Überzeugungen ausgelöst wurden. »Jedes Mal, wenn ich die Bewegung des Glaubens machen will, wird es mir schwarz vor Augen.« Dieser Satz wühlte uns auf. Wir ahnten, dass die Kirche und ihre unerbittlichen Gewissheiten und Unfehlbarkeiten sich gegen all das stellen wollte, was wir an Freiheit und an Gefühl in uns spürten. Das Gefühl der Entmündigung war mit Sicherheit die Bruchstelle, an der auch der glühendste Glaube in sein Gegenteil umschlagen konnte. Das Sichzurückziehen in die Schlafsäle war delikat und stellte uns vor ein logistisches Problem. Doch wir fanden eine Lösung, bei der kein Vorgesetzter oder Kamerad von unseren konspirativen Treffen Wind bekam. Es gab einen Hausdiener, der ein Zimmer auf der oberen Etage bewohnte, wo sich auch unser Schlafsaal befand. Herr Karl hatte ein Holzbein und zog für jeden hörbar mit schleifendem Gang durch die Korridore. Dieses unverkennbare Geräusch suchten wir zu imitieren. Dazu stellten wir uns in Reih und Glied auf und bewegten uns im Gleichschritt bis ans Ende des Hausflurs. Das funktionierte monatelang. Doch als wir Anfang September aus den großen Ferien zurückkamen, stellten wir mit Schrecken fest, dass unser Paradies zerstört worden war. Jemand hatte Teile des Mobiliars, das da oben lagerte und uns als Höhle diente, abtransportieren lassen. Dies war das Ende unseres eingeschworenen Zirkels.
Zu dieser Zeit hatte mein Freund Hermann Michael ein
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