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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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in die Stadt« und »Das Vorbild der Einfachheit«, Themen, die ich auf meine eigene Lage übertrug. All dies zeugte von einer unsäglichen Melancholie. Die unheimlichen Moore, in die der Wanderer sinkt, die Wälder, die stets in der Horizontale bleiben und nie von einem Berg aufgehalten werden, wurden zum Sinnbild meiner inneren Landschaft. Zu diesem Gefühl gehörte auch das Wissen, dass diese Landschaft nach dem Krieg ein für alle Mal verloren war. Die Form meiner Einsamkeit rührte bereits an etwas in mir, das ich danach noch nicht wissen konnte, aber später aufs neue bei meinem Besuch in Sedona erlebte, wohin Max Ernst und Dorothea aus Manhattan geflohen waren. Es war dieselbe Empfindung, die die Lektüre von Henry David Thoreaus Walden in mir hervorrief, ein Buch, das im Bücherschrank in Sedona in ständiger Reichweite stand.
    Die ersten wirklich freien Jahre meines Lebens verbrachte ich in Rottweil als Untermieter im Haus meines ehemaligen Französischlehrers, Hermann Bürker, dem ich viel verdanke. In dieser Zeit konnte ich die Beziehung zu ihm und seiner liebenswürdigen, hochmusikalischen Familie vertiefen. Die hinreißende, ebenso charmante wie kritische Tochter Gisela, für die man einfach Feuer fangen musste, war für ein Jahr in die USA gezogen und schickte von dort aus Briefe, detaillierte Kommentare zu ihrem neuen Leben. Die Wohnung lag in einem Neubauviertel in der Lupfenstraße und damit genau am Stadtrand. Aus meinem Zimmer hatte man freie Sicht auf eine Parklandschaft, in der sich Waldstücke und Wiesen abwechselten. All dies ist heute verschwunden. Ich befand mich damals in einem Zustand dauerhafter Verliebtheit. Es war dies eine erotische Sehnsucht, die sich nahtlos an meine mystischen Fertigkeiten im Konvikt anschloss, eine Liebe mit oder ohne Objekt, die mehr einen eben noch erträglichen Dauerschmerz als eine körperliche Erfüllung anstrebte. Für alles andere waren die Tabus, mit denen mich meine Erziehung gelähmt hatte, noch allzu wirksam. Aus alldem destillierte ich eine Stimmung, die zwischen »Soursweet« und dem Hochmut, nichtverstanden zu sein, flatterte. Ich delektierte mich nicht an dieser Stimmung, aber ich spürte, dass mir meine geschickte, heroische Kompensation vorerst noch ein gewisses Glück sichern konnte. Auch die Frauen, die ich in den Büchern antraf und denen ich mit ganzer Passion nachstellte, waren zunächst Wesen, die etwas Ätherisches an sich hatten, und die Liebesgeschichten, die mich bewegten, verlangten alle nach einem »zypressendunklen Schluss«. Dazu gehörten Mignon, Romain Rollands Paar Pierre und Luce, die engelsgleiche Anna und das unheimliche, geisterhafte Meretlein in Kellers Der grüne Heinrich . Nach und nach kündigte sich jedoch ein Wandel an. Ich entnehme dies meinem damaligen Tagebuch, in dem die hemmungslose Anbetung von Natur und Nächtlichem langsam verschwindet. Im Sommer 1957 notierte ich, mit einer Emphase, die mir damals nicht lächerlich vorkam: »Dass das Quälende in uns gerade so herb und untragbar sein kann, wie das körperliche Leid, das erfuhr ich dieser Tage wie nie zuvor in meinem Leben. Wie tiefgreifend ein anderer Mensch, den man mit ungeheurer Gewalt liebt, Denken und Fühlen bestimmen kann, war mir undenkbar. So konzentriert und bedingungslos war ich noch nie jemandem ausgeliefert … nur meine Einsamkeit bleibt, mein Verlangen, mein dauerndes Funken und Lichtrufen nach dem Stern, der jetzt irgendwo steht. Zurückgestoßen auf mich habe ich den Schauder gespürt, den Ekel vor dem allen, was mich umnachtet, den Überdruss, der die Ferne überwinden will, die Trennung aufheben, den Körper zu vernichten bereit ist, um den luftleeren Raum zusammenschmelzen zu lassen, dass überall, und in allem Liebe, Du und Ich seien. Hat mich die Natur aus ihrer Umhegung entlassen, stahl sich eine Welt des Erlebens tiefer Stunden, eine Sammlung großer Symbolik aus meinem Leben? Nur noch selten finde ich zu ihrer Ruhe zurück, nur spärlich darf ich in ihrer köstlichen, atemverschlingenden Umarmung weilen. Und doch, was könnte ich neues Schöneres gewinnen, das sie nicht enthielte, nicht schon keimhaft angelegt, verborgen dem darbot, der in leiser Trauer durch ihre Pracht zog?« Der letzte Eintrag in diese Hefte, die ich heute nur mit der Furcht eines auf den Kopf gestellten Dorian Gray aufschlage, stammt vom 29. Dezember 1957 , und er endet folgendermaßen: »So unsagbar elend blicke ich in die Zukunft. Wie wenig, wie viel fehlt mir zum

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