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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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sie sich auf dem Flur entfernte, schon unseren Blicken entzogen), hatte sie noch Zeit oder war sie noch in der Stimmung, um ihm zu sagen: »Dann versuchen Sie doch mal, sich zu erinnern, ich werde Sie ein andermal fragen, und dann erzählen Sie es mir, wenn wir allein sind.«
    Custardoy trank sein Bier und war eher wortkarg die kurze Zeit, die er in der Wohnung blieb, vielleicht wie ich, vielleicht wie ein Verliebter. Seine Schuhe mit den halbmetallischen Sohlen machten fast kein Geräusch, wie die von ›Bill‹ wahrscheinlich, deren weibliches Geräusch ich auf dem Marmor des Postamtes, aber nicht auf dem Asphalt von Bertas Straße gehört hatte, als er herauskam und in sein Taxi stieg, als wären auch die Schuhe einverstanden, Geheimnisse zu bewahren.
    Wie viele Dinge werden nicht gesagt im Laufe eines Lebens oder einer Geschichte oder einer Erzählung, manchmal ungewollt oder absichtslos. Ich hatte nicht nur verschwiegen, was ich bereits aufgezählt habe, sondern auch und vor allem das Unbehagen und das Vorgefühl der Katastrophe, die mich seit meiner Heirat vor schon fast einem Jahr begleiteten. Jetzt haben sie sich abgeschwächt, und vielleicht verschwinden sie irgendwann, eine Zeit lang. Ich hatte sie vor Luisa verschwiegen, auch vor Berta und vor meinem Vater, natürlich bei der Arbeit, von Custardoy gar nicht zu reden. Verliebte schweigen sehr oft, selbst Vernarrte. Es schweigt, wer schon etwas hat und es verlieren kann, nicht, wer es schon verloren hat oder kurz davor steht, es zu gewinnen. Berta hatte zum Beispiel unaufhörlich von ›Bill‹ geredet oder von ›Jack‹ und von ›Nick‹, während sie für sie weder Körperlichkeit noch Gesicht besaßen noch gewonnen waren (man spricht von den Verheißungen, nicht von der Gegenwart, wohl aber von der konkreten und abstrakten Zukunft; auch von den Verlusten, wenn sie frisch sind). Aber dann schwieg sie, nach meinen vier langen Stunden Herumgestreune und Einkaufen und Furcht und Warten fand ich sie noch auf und nicht in ihrem Zimmer, im Morgenmantel. Sie war wieder allein, aber noch immer unterdrückte sie das Hinken, wie ich gleich darauf sah, das heißt, sie ließ nicht zu, dass es sich wieder einfand mit der zurückgekehrten, gewohnten Einsamkeit oder mit der Vertrautheit, die sie mir gegenüber empfand, nicht so leicht, nicht so rasch. Ich machte das Licht nicht an, das sie vor ein paar Minuten gelöscht hatte, um mir Bescheid zu geben und mir zu sagen ›Komm rauf‹, denn es war nicht nötig: Sie saß, nach hinten gelehnt, auf dem Sofa, gegenüber dem Fernseher, dessen Licht ausreichte, uns zu erleuchten, mit dem kurzen Video von ›Bill‹, das abermals lief, jetzt, da sie das Bild mit ihrer soeben entstandenen Erinnerung an ihn vervollständigen konnte, jetzt, da sie endlich wusste, was dem Dreieck des blassblauen Bademantels entsprach, oben und unten. Als ich hereinkam und nicht das Licht anmachte, wiederholte die Stimme eines Predigers oder eines gebrechlichen Sängers, die Stimme wie eine Säge auf Englisch vom Bildschirm her: ›Für euch Frauen zählt das Gesicht. Die Augen. Das sagt ihr. Für die Männer das Gesicht mit Körper. Oder der Körper mit Gesicht. Das ist so.‹ Berta hielt das Video an, als sie mich sah. Sie stand auf und gab mir einen Kuss. »Es tut mir leid«, sagte sie, »du hast lange warten müssen.« – »Das macht nichts«, sagte ich. »Ich habe Milch mitgebracht, sie war alle, ich werde sie gleich in den Kühlschrank stellen.« Ich ging zum Kühlschrank, und dort stellte ich nicht nur die Milch ab, sondern nahm alle anderen Sachen aus der Plastiktüte, die ich gekauft hatte, das japanische Buch, die Zeitung, die Musik zu
Das Privatleben von Sherlock Holmes
, das tue ich immer, auch wenn ich von einer Reise komme, packe ich als Erstes den Koffer aus und stelle alles an seinen Platz und den Koffer in seinen Schrank, um das Vergessen zu beschleunigen, das Vergessen der Tatsache, dass ich gereist bin, der Reise, alles soll nach Ruhe aussehen. Ich warf die Tüte in den Abfall, um das Vergessen meines Einkaufs und meiner Spaziergänge zu beschleunigen. Ich kehrte mit meiner kleinen Beute in der Hand ins Wohnzimmer zurück, Berta war nicht da, der Fernseher lief noch immer, ein Programm mit Lachmaschine, das auf das Ausschalten des Videos gefolgt war. Ich hörte sie in ihrem Schlafzimmer, vermutlich lüftete sie es, machte das Bett oder wechselte die Laken, sie hatte keine Zeit dazu gehabt durch mein rasches Eintreffen. Aber das

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