Mein Herz so weiß
einander gleich und vereint durch ihr stetiges gemeinsames Summen, begleitet bisweilen vom Gepfeife der Jungen, die nicht in der Schule waren und deshalb noch an der weiblichen Welt teilhatten, in der sie sich bewegten: die Ladenjungen mit ihren Lieferfahrrädern und ihren schweren Kisten, die kranken Kinder in ihren Betten, die mit Comics und Bilderbüchern und Märchen übersät waren, die arbeitenden Kinder und die nichtsnutzigen Kinder, die pfiffen und sich gegenseitig beneideten. Dieser Gesang wurde täglich und bei jeder Gelegenheit angestimmt, mit euphorischen Stimmen und mit kummervollen, schrillen und kraftlosen, brünetten und melodiösen, misstönenden und blonden Stimmen, in jeder Verfassung und in jeder Situation, unabhängig vom Geschehen im Hause und ohne von jemandem beurteilt zu werden: so wie ein Dienstmädchen ihn trällerte, während sie zuschaute, wie eine Eistorte in der Wohnung meiner Großeltern zerfloss, als sie es noch nicht waren, weil ich noch gar nicht geboren war und auch keine Möglichkeit für mich bestand, geboren zu werden; und wie ein Junge ihn an demselben Tag und in derselben Wohnung pfiff, als er sich einem Badezimmer näherte, in dem vielleicht eine Frau ganz kurz zuvor ebenfalls etwas voller Angst und von Tränen und Wasser benetzt gesummt hatte. Und diesen Gesang sangen die Großmütter und auch die Witwen und die alten Jungfern an den Nachmittagen mit gebrechlicherer und schwächerer Stimme, während sie in ihren Schaukelstühlen oder auf ihren Sofas oder in ihren Sesseln saßen und die Enkel beaufsichtigten und beschäftigten oder verstohlene Blicke auf die Fotografien von Personen warfen, die bereits dahingegangen waren oder die sie nicht beizeiten hatten zurückhalten können, und seufzten und sich fächelten, sich ihr ganzes Leben lang fächelten, auch wenn es Herbst war und auch wenn es Winter war, und seufzten und trällerten und zusahen, wie die vergangene Zeit verging. Und abends konnte man den Gesang, unregelmäßiger und vereinzelt, in den Schlafzimmern der glücklichen Frauen hören, die noch keine Großmütter und keine Witwen und auch keine alten Jungfern waren, ruhiger und sanfter oder erschöpfter, Vorspiel des Schlafs und Ausdruck der Müdigkeit, so wie Miriam ihn mich hatte hören lassen aus ihrem Hotelzimmer, das genau wie meines war, am Abend und bei großer Hitze in Havanna, während meiner Hochzeitsreise mit Luisa und während Luisa weder sang noch etwas sagte, sondern ihr Gesicht auf das Kissen drückte.
Meine Großmutter sang vor allem die Lieder ihrer eigenen Kindheit, kubanische Lieder der schwarzen Kindermädchen, die für sie gesorgt hatten, bis sie zehn Jahre alt war, bis zu dem Alter, in dem sie Havanna verließ, um sich in das Land zu begeben, zu dem sie und ihre Eltern und ihre Schwestern zu gehören glaubten und das sie nur vom Namen her kannten, jenseits des Ozeans. Lieder und Geschichten (ich erinnere mich nicht mehr oder unterscheide sie nicht) voller Tierpersonen mit absurden Namen, die Kuh Verum-Verum und das Äffchen Chirrinchinchín, unheimliche oder afrikanische Geschichten, denn die Kuh Verum-Verum, so erinnere ich mich, wurde sehr geliebt von der Familie, in deren Besitz sie sich befand, eine wohltätige, freundliche Kuh, eine Kuh wie ein Kindermädchen oder wie eine Großmutter, doch eines Tages beschlossen die Mitglieder der Familie, von Hunger oder bösen Gedanken getrieben, sie zu töten und zu braten und zu essen, was die arme Verum-Verum verständlicherweise so nahestehenden Personen nicht verzeihen konnte, und in dem Augenblick, da jedes Familienmitglied ein Stück ihres schon alten, klein geschnittenen Fleisches probiert (und damit gleichsam einen Akt metaphorischer Menschenfresserei begangen) hatte, ließ sich dortselbst, im Esszimmer, eine hohle Stimme aus ihren Mägen vernehmen, die niemals mehr aufhörte und unermüdlich wiederholte – mit der Stimme, die meine Großmutter zu diesem Zweck kehlig klingen ließ, während sie ein Lachen unterdrückte –: »Vaca Verum-Verum, Vaca Verum-Verum«, und so bis in alle Ewigkeit aus ihren Mägen heraus. Was das Äffchen Chirrinchinchín betrifft, so glaube ich, dass ich seine Abenteuer vergessen habe, weil sie sich allzu sehr überstürzten, doch ich meine mich zu erinnern, dass sein Schicksal nicht günstiger war und es schließlich ebenfalls aufgespießt im Bratofen irgendeines rücksichtslosen weißen Mannes landete. Dieser Gesang, den Miriam im Nebenzimmer geträllert hatte,
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