Mein Herz springt (German Edition)
sprechen.
Natürlich waren auch Friedas nächster Morgen, der nächste Tag und die Tage danach durch fassungslose Traurigkeit gekennzeichnet. Frieda wohnte zwar wieder zu Hause bei Matthias und den Kindern. Es war aber allen bewusst, dass dieser Zustand nur von kurzer Dauer sein konnte. Mir war bewusst, dass es für Matthias kein Zurück gab. Er war nie ein wankelmütiger Typ gewesen. Er war immer klar in seinen Aussagen, in seinen Entscheidungen – durch und durch ein Naturwissenschaftler: sachlich, konkret, lösungsorientiert. Und wenn er jetzt nicht mehr in der Lage war, vernünftig zu handeln, seiner Familie den Vorzug vor einem vermeintlichen Intermezzo mit einer anderen Frau zu geben, musste es ihm ernst sein. Nicht oft hatte er sich in seinem vergangenen Leben auf Gefühle verlassen. Es war eine besondereSituation, das sagte mir meine innere Stimme. Ich konnte Frieda keine Hoffnung machen. Wozu sollte es führen?
Matthias zog am darauffolgenden Wochenende in ein Hotel. Den Brief, den ich Montagmorgen in unserem Briefkasten fand, muss er dort geschrieben haben, ihn persönlich vorbeigebracht haben. Heimlich, ohne zu klingeln – ängstlich, ohne das Gespräch mit uns zu suchen. »Für Betty« – keine Adresse, nur diese beiden Worte. Ich wusste sofort, dass dieses Blatt Papier eine Offenbarung sein würde, die mich von Frieda entfernte. Ich wusste, dass es uns ungewollt zu einer Art Verbündeten machte.
»Etwas tief in meinem Herzen sagt mir, dass ich diesen Schritt gehen muss. Es gibt für mich keine Alternative.«
Immer und immer wieder las ich diese Zeilen. Ich saß zu Hause auf unserer Küchenbank und kämpfte gegen meine Tränen. Hätte ich genau diesen Schritt vor vielen Jahren auch gehen müssen?
Ich erwähnte niemandem gegenüber Matthias‘ Brief. Ich vermied es insgesamt, über die Situation zu sprechen, Stellung zu beziehen. Ich versuchte, da zu sein, einfach nur da zu sein.
In den kommenden Wochen kam Frieda häufig mit den Kindern bei uns vorbei. Häufiger als früher – als sie sich und allen anderen beweisen wollte, dass sie es alleine schaffte. Dass sie keine fremde Hilfe brauchte, um die Familie zu managen. Jetzt war es anders. Wie ein scheues Reh wirkte sie manchmal, wenn ich die Tür öffnete und sie vor mir stand. Die Haare seit Tagen ungewaschen, ungeschminkt, abgetragene Klamotten, von den Tränen aufgequollene Augen. Als wolle sie durch ihr Äußeres darauf aufmerksam machen, wie sehr man sie innerlich ausgeplündert hatte. Dass man ihr auch das letzte Quäntchen Selbstbewusstsein geraubt hatte. Fast lethargisch übergab sie mir die Kinder und legte sich in unserem Gästezimmer auf das Bett, das früher ihres war und in dem sie jetzt die Geborgenheit vondamals wiederzufinden schien. Ich ließ sie alleine an diesem Zufluchtsort.
Mit Kalle überlegte ich immer öfter, wie lange wir Friedas desolaten Zustand noch mit ansehen sollten. Kalle war ratlos. Vor allem fühlte er sich machtlos. Seine Tochter war mit einem Problem konfrontiert, das er nicht lösen konnte. Keine zusätzlichen Mathematiknachhilfestunden am Abend, keine verbotenen Führerscheintrainings auf dunklen Parkplätzen, keine lebensrettenden Autofahrten zum nächsten Notarztdienst bei blutigen Verletzungen. Es war eine gebrochene Seele zu trösten, ein zersplittertes Herz zu reparieren, eine unendlich verletzte Tochter wieder mit Lebensmut auszustatten. Dafür hatte Kalle kein Rezept.
Ich merkte Kalle an, wie sehr er unter der Situation litt. Er zog sich häufig auf sein Fahrrad zurück, stieß dabei an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit. Manchmal kam er völlig erschöpft und dehydriert zu Hause an. Ich bat ihn, sich zusammenzureißen – Frieda zu zeigen, dass er vor ihrer Hilflosigkeit, die auch seine eigene war, nicht floh. Ich bat ihn, auf sie zuzugehen, mit ihr zu sprechen, ihr zu helfen – all das zu tun, wozu ich selbst kaum in der Lage war. Eine Familie in Hilflosigkeit, ich zerbrach fast an dieser Vorstellung, die gerade unverblümte Realität war.
Frieda teilte ihren Schmerz kaum mit. Sie hielt Kalle und mich lediglich über Matthias‘ regelmäßige Kontaktaufnahme auf dem Laufenden. Dabei reihte sie die Worte wie Fakten aneinander – sachlich und unbewegt. Matthias habe sich eine Wohnung in Bocklemünd genommen. Matthias suche sich eine neue Arbeitsstelle, die weniger Reisetätigkeit mit sich bringe. Matthias wolle die Kinder gerne so oft wie möglich – mindestens aber jedes Wochenende
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