Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
klingt, als wüsste sie nur allzu gut, wovon sie spricht. Als hätte sie am eigenen Leib erlebt, was ich jetzt fühle.
»Ich denke, du hast Maurice wirklich geliebt«, sage ich.
Sie lacht. »Mein Schatz, er ist nichts weiter als eine Rückblende.«
Ich presse die Finger auf die Schläfen. Das ist alles so verwirrend – was ist real und was nur Fiktion? In dem Märchen verliebe ich mich in Seraphima, aber was ich empfinde, wenn ich mit ihr zusammen bin, ist so ganz anders als meine Gefühle für Delilah. Bei Seraphima tue ich nur so, als ob. Mit Delilah ist alles neu und farbig und unvorhersehbar. »Woher weißt du dann, was Liebe ist?«
»Aus all den Geschichten, die von der Liebe handeln, zu Papier gebracht von Menschen, die sie erlebt haben. In Rapscullios Höhle gibt es jede Menge Bücher über Figuren, die nicht in dieser Geschichte vorkommen, aber trotzdem verrückt nacheinander sind. Romeo und Julia, die Schöne und das Biest, Heathcliff und Cathy.«
»Wer ist das denn?«
Maureen zuckt die Schultern. »Ich weiß nicht, aber unsere Autorin hat ihre Namen auf die Bücher geschrieben, die in der Illustration auf Seite 36 in den Regalen stehen. Ein paar davon habe ich gelesen, in der Freizeit. Du weißt, dass alles, was der Autorin durch den Kopf gegangen ist, im Buch existieren kann, selbst wenn es in der eigentlichen Geschichte nicht auftaucht.«
Das stimmt. Die Welt, in der wir leben, geht über die Grenzen des Märchens hinaus; sie ist so groß wie die Fantasie der Frau, die uns erschaffen hat. Deshalb können Frump und ich Schach spielen und Kapitän Crabbe denkt sich gerne Kreuzworträtsel aus. Es ist, als hätte sich die Autorin die Räume, in denen wir leben, ganz plastisch und bis in alle Einzelheiten ausgemalt. Die Schlossküche zum Beispiel ist voll ausgestattet mit Getreide und Mehl und Geschirr und Besteck, auch wenn man Cook in dem Märchen nie wirklich backen sieht. Deshalb schmökert Maureen in unserer Freizeit in Kochbüchern herum und backt Kuchen und Pasteten und Kekse für uns.
»Darf ich dich noch etwas fragen?« Ich drehe mich zu Maureen. »Maurice ist für dich nur eine Rückblende, das weiß ich. Aber immerhin ist er ausgezogen, um dich zu retten, und das Ergebnis war, dass er für immer von dir gegangen ist. Lohnt es sich wirklich, für die Person, die man liebt, zu sterben?«
Darüber denkt sie einen Augenblick nach. »Das ist nicht die richtige Frage, Oliver. Du solltest dich eigentlich fragen: Kann ich ohne sie leben?«
Frump hat ein Treffen aller Märchenfiguren einberufen, deshalb versammeln wir uns auf der letzten Seite der Geschichte, am Ewigkeitsstrand. Hier steht er auf den Hinterläufen auf einem Treibholzstumpf und spricht zur Menge. »Freunde, mir ist in letzter Zeit aufgefallen«, hebt er an – er ist wirklich der beste Redner von uns allen –, »dass wir im Job versagen.«
»Versagen ist mein Job«, bemerkt Pyro der Drache, der zugegeben ziemlich klasse aussieht mit seinen nagelneuen feuerroten Gummibändern an den Oberkiefer-Brackets. »So steht’s auf Seite 40.«
»Ich meine es mehr im übertragenen Sinn«, sagt Frump. »Die meisten von uns haben kaum noch Auftritte, weil der Leser offenbar auf eine bestimmte Seite fixiert ist.«
Auf meinem Platz, mit dem Rücken an eine Palme gelehnt, erstarre ich.
»Und zwar auf Seite 43«, fügt Frump noch hinzu und richtet den Blick auf mich.
Ich lache matt auf. »Tja«, meine ich, »da soll einer schlau draus werden.«
»Kannst du dir einen Grund dafür vorstellen, Oliver, warum der Leser den Rest der Geschichte ignoriert?«
»Ähm, das muss wohl ein Zufall sein«, stammle ich. »Vielleicht interessiert sie sich fürs Klettern?«
»Sie?«, fragt Rapscullio und tritt stirnrunzelnd einen Schritt vor. »Woher weißt du, dass es eine Sie ist?«
Ich schlucke schwer. »Habe ich sie gesagt? Das war nur geraten«, erkläre ich achselzuckend. »Schließlich wird unser Buch doch hauptsächlich von kleinen Mädchen gelesen.«
»Genau darauf will ich hinaus«, erklärt Frump. »Deshalb denke ich, wir müssen die Handlung ein bisschen aufpeppen. Wenn das Buch das nächste Mal aufgeschlagen wird, werden wir dem Leser so richtig ins Auge springen.«
»Na dann viel Glück dabei«, murmle ich.
»Was war das, Oliver?«
Ich huste. »Ich hatte nur so ein Kitzeln im Hals.«
»Also, wie gesagt – Meerjungfrauen, werdet grusliger! Die Kinder sollen Albträume bekommen! Und Trolle, schleudert Oliver zu Boden, wenn er die
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