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Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Titel: Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult , Samantha van Leer
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natürlich«, entgegnet er. »Hier gibt es fünfhunderteinundsechzig. Zu Hause habe ich ein Buch, in dem jede einzelne Art abgebildet ist.«
    »Puh.« Ich tue so, als müsste ich diese Information erst einmal verarbeiten. »Und wie viele verschiedene Schmetterlinge konntest du schon fangen?«
    Bilde ich es mir nur ein oder errötet er wirklich? »Bis jetzt erst achtundvierzig. Aber ich muss mich ja auch auf die sechzig Seiten dieses Buches beschränken.«
    Inzwischen sind wir an der morschen Tür seiner Hütte angelangt. »Und wenn ich dir nun sagen würde, dass du auch die übrigen fünfhundertdreizehn Arten fangen kannst?«
    Rapscullio hält inne, die Hand am Türknauf. »Weißt du, Leute zu verschaukeln ist nicht die feine Art.«
    »Das tue ich nicht, Rapscullio, ich schwöre es.« Ich folge ihm in seine Höhle. Natürlich war ich schon unzählige Male hier, aber ich finde es immer noch ein bisschen gruselig. Die Wände fühlen sich leicht klamm an, und von dem moosigen Boden steigt Dunst auf. In einer Ecke steht ein überladener Schreibtisch, der aus Tierknochen und wurmstichigem Holz zusammengebastelt ist. Das einzige natürliche Licht kommt durch ein in die Felswand gehauenes Loch, und es fällt auf eine Staffelei, auf der eine große Leinwand steht: ein halbfertiges Porträt von Königin Maureen als junges Mädchen, in die sich Rapscullio – in der Geschichte – unglücklich verliebt, was ihn zum Bösewicht mutieren lässt. Über den kleinen Raum verteilt gibt es noch ein halbes Dutzend weiterer Bilder von ihr, und dazu ein paar von feuerspeienden Drachen.
    »Folgendes«, sage ich und beende damit meine Betrachtung. »Ich glaube, es könnte da eine Art Portal geben. Einen Weg, um aus dem Märchen in die reale Welt zu entkommen. Und in der realen Welt, Rapscullio, könntest du den lieben langen Tag Schmetterlinge jagen, wie es sie nur in deinen kühnsten Träumen gibt.«
    »Warum sollte ich das tun?«, fragt er. »Dasselbe kann ich doch hier auch machen.«
    »Aber du hast gesagt, es gibt nur fünfhunderteinundsechzig Arten …«
    »Bis jetzt «, entgegnet Rapscullio. Er drängt mich zur Seite und greift mit seinem knochigen Arm nach einem Gemälde hinter mir, das ich bisher nicht bemerkt habe. Dann nimmt er Maureens halbfertiges Porträt von der Staffelei und ersetzt es durch dieses neue Bild.
    Es ist eine perfekte Nachbildung des Raumes, in dem wir stehen. Darin befindet sich eine Staffelei. Und auf der Staffelei steht eine Leinwand mit der perfekten Nachbildung dieses Raumes. Und so weiter und so fort. Auf das Bild zu starren macht mich ein bisschen schwindlig, es ist, als hätte sich vor meinen Augen ein Fenster aufgetan.
    »Wow«, sage ich beeindruckt. »Vielleicht solltest du deine Karriere als Bösewicht an den Nagel hängen und stattdessen Künstler werden.«
    »Schau hin und lerne was, mein Freund«, sagt Rapscullio. Er nimmt seine Palette und taucht einen verkrusteten Pinsel in einen Klecks Karmesinrot. Dann malt er mit sorgfältigen, feinen Strichen einen prächtigen Schmetterling auf die Leinwand, der unmittelbar über dem Schreibtisch schwebt. Mit ein paar gelben und schwarzen Tupfern gibt er ihm den letzten Schliff, dann tritt er zurück, um sein Werk zu begutachten. »Voilà«, sagt er, und ich werde Zeuge, wie der Schmetterling ganz allmählich von der Leinwand verschwindet.
    Und wie er zehn Zentimeter vor meiner Nase wieder auftaucht, bevor er durch das Loch in der Felswand hinausflattert.
    »Das macht dann fünfhundertzweiundsechzig Arten«, bemerkt Rapscullio.
    In einer der Rückblenden des Märchens erfahren wir, wie Rapscullio es zuwege gebracht hat, dass ein Drache das Königreich in Angst und Schrecken versetzt und König Maurice tötet. Anstatt im Verborgenen Hochland auf Drachenjagd zu gehen, wo diese Tiere der Sage nach leben, erschafft er einen mithilfe seiner magischen Leinwand. Alles, was er darauf malt, schält sich daraus hervor, so plastisch und lebendig wie du und ich.
    Ich kann nicht fassen, wie ich das vergessen konnte.
    »Warte mal«, sage ich entgeistert. »Du kannst also alles erschaffen, was du willst, bloß indem du es malst – selbst wenn die Geschichte gerade nicht gelesen wird?«
    Zur Antwort nimmt er einen anderen Pinsel und malt einen dampfenden Becher auf den Schreibtisch in dem Gemälde. Augenblicklich erscheint er in seiner Hand. »Tee?«, bietet er mir an.
    »Rapscullio, das ist ja großartig. Das ist sogar noch viel mehr als großartig. Du kannst

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