Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
wirft Oliver ein. »Delilah wollte mir zeigen, wie man einen Braten zerteilt.«
Königin Maureen schaudert kaum merklich. »Ich wusste gar nicht, dass du dich für handwerkliche Tätigkeiten interessierst, mein Lieber«, sagt sie. »Dann einen schönen Nachmittag.«
Oliver nimmt meine Hand (schon wieder!) und führt mich durch die Parkanlage. Wir kommen an Beeten mit Fleißigen Lieschen und blauen Lupinen vorbei, einem kleinen Sitzbereich mit Steinbänken und dem königlichen Krocketrasen. Schließlich erreichen wir den Eingang eines Labyrinths. Oliver führt mich zum Mittelpunkt, wo die Äste der Bäume einen Baldachin über unseren Köpfen bilden.
»Du bist es«, sagt er. »Du bist es wirklich!« Er zieht mich in seine Arme und drückt mich fest an sich.
Ich hatte geglaubt Oliver zu kennen, weil ich das Buch so oft gelesen habe, aber es gibt einiges, was ich noch nicht wusste: dass er über dem Schlüsselbein so eine Kuhle hat, in die mein Kinn perfekt hineinpasst. Dass er nach frischem Heu duftet. Dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, wenn wir uns berühren.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sage ich. »Ich wollte etwas aus dem Schrank holen, und auf einmal bin ich durch die Seiten gepurzelt.« Ich zwicke mich selbst in den Arm. »Träume ich das gerade?«
»Nein«, entgegnet Oliver. »Du bist wirklich hier. Ist das nicht unglaublich? Ich kann nicht fassen, dass es funktioniert hat.« Er lächelt mich an. »Deine Sommersprossen wirken viel kleiner, wenn dein Gesicht nicht den ganzen Himmel ausfüllt.«
Verlegen bedecke ich meine Nase mit der Hand, dann lasse ich mir seine Worte noch mal durch den Kopf gehen. »Du kannst nicht fassen, dass es funktioniert hat«, wiederhole ich langsam. »Was meinst du damit?«
Oliver drückt seine Stirn an meine. Sein Atem riecht nach Ahornsirup. »Als ich versucht habe, mich aus dem Buch herauszuschreiben, hat es nicht geklappt. Da ich nicht den Eindruck hatte, ich würde allzu bald in der Lage sein, das Buch zu verlassen, habe ich Rapscullio gebeten, dich stattdessen hineinzumalen .«
Ich stoße ihn weg. »Du hast was getan?«
»So sind wir wenigstens zusammen, dachte ich. Ich wusste, dass dir nichts passiert. Er hat doch Schmetterlinge gemalt, die direkt aus der Seite heraus lebendig wurden.«
»Wollten wir nicht eigentlich dich aus dem Buch heraus holen? Jetzt stecken wir beide hier drin fest. Mal ganz abgesehen davon, dass du mich nicht einmal gefragt, sondern einfach aus meinem Leben gerissen hast!«
Oliver schüttelt verwirrt den Kopf. »Aber du hast doch gesagt, du möchtest bei mir sein.«
»Nicht so«, sage ich, als ich die Ungeheuerlichkeit der Situation erfasse. »Und wenn ich nun nie wieder herauskomme?«
»Sobald das Buch aufgeschlagen wird, korrigiert es sich von selbst«, denkt er laut, aber ich sehe ihm an, dass er sich das alles nicht richtig überlegt hat.
»Und wer soll es aufschlagen, jetzt wo ich hier bin? Das Buch steht zu Hause auf meinem Bücherregal zwischen Dutzenden anderen. Außerdem, selbst wenn es jemand findet und aufschlägt, wer garantiert dir, dass ich wieder in meiner Welt herauskomme und nicht komplett verschwinde?«
»Dann bleib bei mir.« Oliver packt meine Arme. »Für immer. Wäre das so schlimm?«
»Ich würde meine Mom nie wiedersehen«, sage ich, und Tränen schießen mir in die Augen. »Sie würde sich fragen, was mit mir passiert ist, und nie die Wahrheit erfahren. Außerdem könnte ich Jules nicht sagen, dass es mir leidtut …« Ich bringe den Satz nicht zu Ende, denn ich muss an unseren Streit denken. »Zu einer Freundschaft gehören immer zwei, Oliver«, wiederhole ich Jules’ Worte. Jetzt habe ich es verstanden. Jetzt erkenne ich, wie zerstörerisch es für die Freundschaft ist, wenn einer der Beteiligten nur an sich denkt. »Hast du dir eigentlich überhaupt mal überlegt, wie es mir damit geht, hierher verschleppt zu werden, an einen Ort, von dem du unbedingt wegwillst? Hast du gar nicht in Erwägung gezogen, mich um Erlaubnis zu fragen? Hast du auch nur einen Gedanken an mich verschwendet, bevor du zu Rapscullio gerannt bist?«
Oliver starrt mich mit finsterem Blick an. An seinem Hals zuckt ein Muskel. »Ich habe nur an dich gedacht.«
Ich habe mich noch nie so einsam gefühlt, obwohl Oliver direkt vor mir steht. » Du wolltest dein Leben verlassen«, sage ich, »aber ich nicht meines.«
Tränen strömen mir übers Gesicht, als ich blind durch das Labyrinth laufe. Ich weiß nicht, wohin ich
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