Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
hülle mich darin ein, obwohl ich vollständig bekleidet bin mit T-Shirt und Shorts. Blitzschnell überlege ich, welche Entschuldigung ich für meine Anwesenheit vorbringen kann. Das Buch ist eindeutig geschlossen, denn nichts von dem hier passiert in dem Märchen. Das heißt also, dass alles, was Oliver mir erzählt hat, stimmt: Es gibt eine komplett andere Welt zwischen den Zeilen.
»Majestät, ich bringe eine frevelhafte, infame, ruchlose Diebin!«, sagt Rapscullio und lächelt die Königin verlegen an. »Ich habe das Synonymwörterbuch studiert, das du mir zu Weihnachten geschenkt hast.«
Ich stehe auf und stemme die Hände in die Hüften. »Zu eurer Information, ich bin keine Diebin. Und ich bin weder frevelhaft, infam noch ruchlos. Im Gegenteil, manche Leute nennen mich sogar clever, geistreich und scharfsinnig.« Ich recke das Kinn. »Sprachlicher Ausdruck: eine glatte Eins.«
»Clever-Geistreich-und-Scharfsinnig«, wiederholt Königin Maureen. »Das ist ganz schön lang, Liebes. Hast du keinen Spitznamen?«
»Nein – mein Name ist Delilah.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragt die Königin.
»Weil der da« – ich zeige mit dem Finger auf Rapscullio – »mich einfach so als Diebin vorgestellt hat.«
»Dass dieses Mädchen kriminell ist, weiß ich aus erster Hand – von Seiner Königlichen Hoheit, Prinz Oliver«, schnaubt Rapscullio.
Königin Maureen taxiert mich. »Sie sieht nicht gerade wie eine Verbrecherin aus. Eher wie eine Herumtreiberin.«
»Ich bin weder das eine noch das andere«, sage ich. »Fragt doch Oliver. Er wird alles erklären.«
»Du kennst den Prinzen?«, fragt Königin Maureen. Ungläubig mustert sie mich von Kopf bis Fuß.
»Majestät?«, höre ich eine vertraute Stimme. »Habt Ihr mich gerufen?«
Und dann steht plötzlich, kaum einen Meter entfernt, Oliver vor mir. Das Herz hämmert mir gegen die Rippen. Er ist größer, als ich ihn mir vorgestellt habe, und seine Augen – also, die sind überhaupt nicht blau wie das Meer. Eher schon blau wie der Abendhimmel. Aber seine Stimme ist genauso, wie ich sie kenne. Und als er lächelt, zieht sich einer seiner Mundwinkel weiter nach oben als der andere, daran merke ich, dass er es wirklich ist.
»Oliver!«, rufe ich und stürze mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
Platsch .
Ich liege flach auf dem Boden und drei Wachen sitzen auf mir.
»Lasst sie los«, sagt Oliver, schiebt die Wachen weg und rollt mich herum. »Alles in Ordnung?«, fragt er und streckt mir die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
Ich bringe kein Wort heraus. Und zwar nicht, weil mich die drei Wachen fast erstickt hätten. Sondern weil wir uns zum ersten Mal berühren. An den Händen halten.
Ich glaube, Oliver wird sich dessen im gleichen Augenblick bewusst, denn wir starren einander wie gebannt an.
Eine Zeile aus dem Märchen schießt mir in den Kopf:
Deshalb gab es Musik, erkannte er jetzt. Weil es Gefühle gab, die sich nicht mit Worten ausdrücken ließen.
»Ich fürchte, es handelt sich um ein Missverständnis«, bringt Oliver heraus und steht auf. »Delilah ist eine alte Freundin.«
»Und warum sollte ich dann einen Steckbrief malen?«
»Ich dachte, sie wäre verschwunden!«, erklärt Oliver, und dann grinst er breit. »Und schau, wie gut es funktioniert hat, Rapscullio, denn hier ist sie! Du hast eine Belohnung verdient. Königin Maureen, haben wir vergangenen Monat nicht so eine seltene japanische Wasserraupe als Staatsgeschenk bekommen?«
»Oh, ja.« Sie klatscht in die Hände und einer ihrer Lakaien läuft los, um sie zu holen. »Merkwürdig«, sagt sie und beäugt mich kritisch. »Ich achte eigentlich sehr darauf, alle Figuren aus dem Buch zu kennen, aber dir bin ich, glaube ich, noch nie begegnet. Wie kann das sein?«
»Das ist Delilah«, stellt Oliver mich rasch vor und geht damit über ihre Frage hinweg. »Delilah, Königin Maureen.«
Ich strecke die Hand aus, doch Oliver stößt mich in die Seite. »Hofknicks«, hüstelt er.
Stimmt. So gut ich kann beuge ich die Knie zu einem Knicks, was mit der Pferdedecke jedoch schwierig ist.
»Woher kommst du, Delilah?«
»Oh, ich lebe in New Hampsh…«
»Seite 22«, unterbricht Oliver. »Delilah arbeitet in der Metzgerei.«
»Metzgerei?«, raune ich ihm zu. »Echt? Was Besseres ist dir nicht eingefallen?«
»Wie … interessant«, meint Königin Maureen. »Du musst dir einmal unser Vieh ansehen.«
»Das wäre … wundervoll«, entgegne ich.
»Nun, wir müssen los«,
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