Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
Oberstdorf
»Ein fast unmenschlicher Druck«
Wie sollte das in den nächsten Tagen weitergehen? Drei Wettbewerbe – in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen – standen noch bevor. Aber nicht die Sprünge machten mich nervös, eher die Pausen dazwischen. Ich wusste, ich musste das Tagesgeschäft möglichst mit vertrauter Routine angehen. Reisen, Schlafen, Frühstück, Training. Alles wie immer.
Ich fühlte mich bestens in Form, das ja. Aber ich wusste, dass ich mich jetzt nur auf das Wesentliche konzentrieren durfte. Bloß keinen zusätzlichen Stress zulassen. Keine Zeitungen lesen. Keine zusätzlichen Interviews zu den Standard-Zehnminuten an der Schanze. Keine speziellen Fotowünsche. Kein Bad in der Menge. Kein Wort über weitere Siege. Bloß keine falschen Gedanken in den Kopf lassen. Alles, was ablenken könnte, abblocken oder ausblenden. Zur Entspannung nur ein bisschen Fußballspielen, ein paar lockere Läufe und Blödeln mit den Teamkameraden.
Das Team um den Bundestrainer versuchte mich – so gut es ging – von allen Einflüssen fernzuhalten. Pressesprecher Markus Schick und die Physiotherapeutin Nicole Hoffmeyer begleiteten mich immer zur Siegerehrung und zu den obligatorischen Pressekonferenzen und nach 20 Minuten zurück ins Quartier. Mannschaftsarzt Dr. Jakob redete mir gut zu. Und abends bei der Physio sorgte Nicole für Streicheleinheiten auf der Massagebank. Wolfgang Steiert, der das Unternehmen Vierschanzentournee koordinierte und uns auf die Wettkämpfe einstellte, sagt heute: »Es war fast unmenschlich, welchem psychischen Druck Sven in den Tourneetagen ausgeliefert war. Doch er war stabil wie eine Maschine – und eiskalt.«
Mein Gefühl signalisierte mir damals: Deine besten Sprünge kommen noch.
Zweites Springen, zweiter Triumph
Wie in Oberstdorf verzichtete ich auch in Garmisch-Partenkirchen nach zwei stabilen, weiten Trainingssprüngen auf die Qualifikation. Den Abend vor dem zweiten Wettkampf hatte unsere Mannschaft im Hotel »Eibsee« außerhalb von Garmisch verbracht. Es war Silvester, und es gab ein Siebengängemenü. Die Highlights: Wachtelkeulen und Orangensorbet. Klar, um Mitternacht köpften wir dann eine Flasche Champagner, stießen an und gingen dann bald ins Bett. Ich konnte gut einschlafen, war aber nachts um drei wieder wach. Das war in diesen Tourneetagen immer so.
Das neue Jahr begann mit Kaiserwetter. Es war eiskalt. Euphorische 35.000 Zuschauer machten das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen zu einem Fest. Beim Probedurchgang passte alles, ich flog weiter als alle anderen. Und auch im ersten Durchgang schaffte ich es auf die Bestweite (122,5 Meter), lag aber nur auf Platz 2, weil der Österreicher Andreas Widhölzl um 0,6 Punkte besser benotet wurde. Im zweiten Durchgang sprang ich dann 125 Meter, Widhölzl nur 124 Meter. Mitten im Flug, so sagte er, sei ihm eine Kontaktlinse verrutscht, er habe »alles nur noch hinter einem Schleier gesehen«. Jedenfalls fiel mein Sieg sehr knapp aus, Widhölzl lag nur 1,7 Punkte hinter mir. Dritter wurde Małysz.
Hier wieder Passagen aus der Pressekonferenz nach meinem Sieg.
»Zweiter Wettkampf, zweiter Sieg – ist die Vierschanzentournee ein wahr gewordener Traum für Sie?
Ich schnalle einfach gar nichts mehr. Ich bin nur noch oberfroh. Es ist phänomenal. Ich genieße einfach das geile Siegesgefühl. Ausgerechnet bei diesem Spektakel der Vierschanzentournee läuft es optimal. Es ist einfach unfassbar.
Sie haben nach Ihrem Finalsprung riesig gejubelt. Wussten Sie schon, dass die Weite zum Sieg reicht?
Das wusste ich nicht, aber ich musste meine Freude einfach herausschreien. Die Anspannung war so groß. Ich war in dem Moment einfach froh, dass der Wettkampf zu Ende ist.
Aber Sie wirken doch eigentlich locker und gelöst.
Das sieht nur so aus. Innerlich habe ich 200 Puls und kriege bald ’nen Herzkasper. Wenn das mit dem Nervendruck so weitergeht, fange ich im nächsten Jahr wieder bei den Nordisch-Kombinierten an. Ich bin wirklich froh, wenn hier jeder Tag rum ist.
Jetzt haben Sie bei Halbzeit 20 Punkte Vorsprung auf Adam Małysz, und die größten Schanzen kommen noch. Ist der Gesamtsieg bei der Tournee jetzt oberstes Ziel?
Ich schaue erst einmal nur bis Innsbruck. Die Schanze dort ist ganz neu und soll Weiten über 130 Meter zulassen. Das kommt uns Deutschen sicher entgegen. Ich versuche, weiter mein Zeug zu machen. Den Rest werden wir sehen. Ich brauche doch bloß mal bei einem Jubler auf dem
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