Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
Skiflug-Weltmeisterschaft, all die schönen Trainingskonzepte komplett über den Haufen geworfen werden.
Denn sechs Wochen vor Ende der Saison und drei Monate vor der neuen Saison, die so großartig werden sollte, war ich physisch und psychisch komplett am Ende.
Ausgerechnet während des Skifliegens in Oberstdorf, was ja wirklich meine Domäne ist, ging nichts mehr. Ich war total kraft- und lustlos. Ich wog kaum mehr als 60 Kilo. Die Trainer schickten mich nach Hause. Und ich ließ das widerstandslos mit mir machen. Sie sagten mir, dass es so mit mir nicht weiterginge. Ich sollte erst mal ein paar Kilo zulegen, bevor ich wieder trainieren dürfte.
Tatsächlich konnte ich keine Leistung mehr bringen, weil mein viel zu leichter Körper schwer aus der Balance geraten war.
»Skispringer führen ein Dasein abseits jeder Norm. Sie sind Grenzgänger, die hart trainieren und wenig essen, weil man leicht sein muss, um weit zu fliegen.« Der Spiegel
»Mit dem Gewicht schon im Grenzgebiet«
Mir fehlte die Substanz, um einen ganzen Wettkampfwinter durchzustehen. Wolfi Steiert, mein Heimtrainer, sagte öffentlich: »Das Training brachte nichts mehr, Sven war mit seinem Gewicht schon im Grenzgebiet.« Und der Bundestrainer erkannte: »Der Junge geht uns flöten, wenn er sich nicht besinnt. Er hat nicht mehr gelacht, nicht mehr gejubelt, nicht mehr geweint, das war kein Mensch mehr.« Abends nach dem Skifliegen in Oberstdorf öffnete Reinhard Heß eine Flasche Wein. Und ich sagte ihm: »Ich will nicht mehr, ich habe keinen Spaß mehr am Skispringen.« In seinen Erinnerungen notierte der Bundestrainer: »Nie zuvor hatte ich so deutlich erlebt, dass ein Skispringer keine Liebe mehr für seinen Sport aufgebracht hatte, dass er nicht mehr bereit war, auch nur noch einen einzigen Sprung zu machen.«
Es stimmt: Ich wollte einfach nicht mehr. Ich war zu diesem Zeitpunkt ausgelaugt, ausgezehrt. Leer. Ohne Energie. Danach leerten wir die Flasche Rotwein.
»Für dich ist die Saison vorzeitig beendet«
Reinhard sagte: »Für dich ist die Saison vorzeitig beendet, du wirst in diesem Winter nicht mehr springen. Das ist unser offizieller Standpunkt, so werden wir ihn auch in die Öffentlichkeit tragen. Wir werden dir alle Zeit geben, die du brauchst.«
Ich war erleichtert, total erleichtert. Als mir der Bundestrainer seine Entscheidung mitteilte, soll ich gestrahlt haben – als wäre im Februar bereits Weihnachten.
Skispringen ist ja immer eine Gratwanderung. Als Springer musst du leicht sein, um weit fliegen zu können. Ich hatte mich mit meinem Gewicht aber zu lange am untersten Limit bewegt. Das kostete die Kraft, die jetzt fehlte. Unser Mannschaftsarzt Dr. Ernst Jakob checkte mich gewissenhaft durch und verordnete mir offiziell eine Erholungspause.
Bei meinen Eltern in Burgau versuchte ich abzuschalten. Ich ließ mich von meiner Mutter verwöhnen, sie gab sich alle Mühe, mich wieder aufzupäppeln. Es dauerte fast acht Wochen, ehe ich wieder eine schnelle Bewegung vom Sofa machen konnte. Erst Anfang Mai stieg ich wieder in den Trainingsalltag ein.
Ein knallhartes Aufbauprogramm
Ich hatte verstanden. Ich musste ernsthaft an meiner Physis arbeiten, um künftig eine ganze Saison durchstehen zu können. Ich brauchte ein stabiles Muskelkorsett. Bislang hatte ich vor allem von meinem aerodynamischen Fluggefühl gelebt, aber ich war kein richtiger Athlet. Deshalb verordnete mir Bundestrainer Heß ein knallhartes Aufbauprogramm, das ich mit meinem Heimtrainer Wolfi Steiert durchzog. Wichtig war: ein konsequentes Krafttraining, mit kleinen Gewichten und vielen Wiederholungen, um vier Kilo mehr Muskulatur aufzubauen. Außerdem stellten wir mein bisheriges Ernährungsprogramm auf den Prüfstand. Nicht nur Blattsalat & Co. – ab sofort sollte auch mal ein Stück Fleisch auf den Teller. Man musste mich dazu nicht überreden, ich wollte es auch so.
Das Motto »Leicht fliegt weiter« hatte zwar weiterhin seine Gültigkeit, aber wir ergänzten es jetzt um eine neue Einsicht: »Aber du musst erst mal ins Fliegen kommen.« Das hieß konkret: Ich brauchte mehr Sprungkraft beim Absprung.
Wir wussten alle, dass ich meine athletischen Defizite nicht in nur zwei, drei Monaten aufholen konnte. Es würde neun Monate dauern. Neun Monate systematisches, hartes Training.
Und tatsächlich: Beim sogenannten Treibhöhentest, der für Trainer immer ganz ungeschminkt die wahren Sprungkraftwerte eines Athleten zeigte, konnte ich mich kräftig steigern –
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