Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
feiern? Wieso mochte ich mich nicht einfach mal fallen lassen und auskosten, dass man mich feierte? Warum fiel es mir schwer, mich von Herzen zu freuen? Was bedeutete das?
»Wie ein Geist«
Wünscht sich nicht jeder diese öffentliche Aufmerksamkeit? Das Streben nach Applaus, Anerkennung und Wertschätzung sind doch mit die stärksten Antriebsfedern, die dir helfen, dich jahrelang im Training zu fordern. Bis an die Grenze und darüber hi-naus. Aber jetzt war mir alles viel zu viel geworden.
Die zusätzlichen Termine brachten weitere Unruhe. Obwohl ich schon besser gelernt hatte, mit dem Erwartungsdruck umzugehen, und auch Nein sagen konnte. Trotzdem hatte ich zuletzt das Gefühl, keinen Raum und keine Zeit mehr für mich zu haben. Ich fühlte mich von allen Seiten bedrängt. Ich fühlte mich einsam, obwohl da ständig Leute waren, die irgendetwas von mir wollten.
Und schließlich meldete sich mein Körper, er signalisierte ganz deutlich: Schwäche. Ich fühlte mich häufig schlapp. Ich konnte keine Nacht mehr durchschlafen, um zu regenerieren. Trotzdem bin ich pflichtbewusst morgens früh aufgestanden. Und schleppte mich dann mit einer bleiernen Schwere durch den Tag. Monatelang ging das nun schon so. Ich fühlte mich wie ein alter Mann, der sich auf die Fensterbank stützt und denkt: »Ihr da draußen, lasst mich doch bloß in Ruhe.«
Und auch das Training spulte ich lustlos ab. Ich erfüllte mein Pensum, mehr nicht. Tatsächlich erlebte ich jede Trainingseinheit als eine Qual. Ich zählte die Sprünge, die mir noch bevorstanden. Häufig dachte ich: »Puh, noch eine gute Stunde, und dann habe ich es wieder hinter mir.« Nichts ging mehr. Gar nichts.
Irgendwann fiel mein seltsamer Zustand auch anderen auf. Ein Journalist beschrieb eine Szene in unserem Teamhotel, als ich »wie ein Geist« morgens im Trainingsanzug und mit Kaffeetasse im Frühstückssaal erschien: »Mit bleichem Gesicht und eingefallenen Wangen ging er zum Büfett, um sich eine Portion Müsli zu holen. Er nahm die anderen Hotelgäste nicht wahr.« Ich hätte da einen völlig »entrückten Eindruck« hinterlassen. Und ich selbst hatte in einem Interview über die letzte Saison gesagt, es sei nur noch »so ein Dahinvegetieren« gewesen.
Es war ganz komisch. Etwas in meinem Leben hatte sich grundlegend verändert. Mein Leben war aus der Bahn geraten. Jahrelang hatte ich geglaubt, alles im Griff zu haben. Und auf einmal hatte ich die Orientierung verloren, wusste ich nicht mehr, was mit mir los war. Was fehlte mir bloß? Was sollte ich nur machen? Was hatte mich bloß so ausgezehrt?
In diesen Wochen im Herbst 2003 war ich verzweifelt, aber gleichzeitig hoffte ich immer noch: Ach, das wird schon wieder irgendwie. Aber es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Mein Zustand verschlechterte sich zunehmend. Ich war ständig gereizt. Das bekamen meine Mannschaftskameraden und Trainer zu spüren. Manchmal wurde ich auch aggressiv. Bei den geringsten Kleinigkeiten sah ich rot.
Ich bewegte mich auch körperlich längst im roten Bereich. Das Training schlug nicht mehr an, meine Kraftwerte stiegen nicht. Im Gegenteil, sie ließen mehr und mehr nach. Die Energiespeicher in meinen Muskeln waren aufgebraucht. Und meine Motivation sowieso.
Die schöne Seite eines Sportlerlebens: Fans bitten um Autogramme. Ich musste mehr und mehr mit mir kämpfen, um diese Wünsche erfüllen zu können.
Eine heilsame Zwangspause
Wahrscheinlich wäre ich schon ein Jahr früher in diesen elenden Zustand abgerutscht, wenn da nicht diese Verletzung in Harrachov gewesen wäre. Drei Monate Zwangspause. In dieser Zeit konnte, nein, musste ich mich wenigstens mal ausruhen.
Nach der sensationellen Vierschanzentournee und den »goldenen« Olympischen Spielen wollte ich Anfang März 2002 auch noch meinen Weltmeistertitel im Skifliegen verteidigen, den ich zwei Jahre zuvor in Vikersund gewonnen hatte. Vor dem Wettkampf im tschechischen Harrachov war ein höllischer Schneesturm über die Sprungschanzenanlage Čerťák am Nordhang des Teufelsbergs (Čertova hora) gefegt, mit Windspitzen von bis zu 70 Stundenkilometern, und hatte reichlich Schnee in die Arena getragen. Dieser Schnee war ziemlich nass – und das wurde mir zum Verhängnis.
Im ersten Durchgang war ich 202 Meter weit geflogen, nur der Finne Matti Hautamäki war noch einen halben Meter besser. Auch im zweiten Durchgang schaffte ich wieder 202 Meter. Damit kam ich weiter als jeder andere – und wurde erneut Weltmeister, auch
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