Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
Heimtrainer in Hinterzarten immer in meiner Nähe gewesen. Wir waren fast immer zusammen laufen gegangen. Er hatte an der Schanze gestanden, hatte jeden Sprung analysiert. Dieser routinierte Umgang war mir sehr wichtig. Auf seine Korrekturen hatte ich mich blind verlassen können. Doch jetzt war konzentrierte Arbeit kaum möglich. Wolfi telefonierte ständig. Auch während meiner Trainingssprünge. Das machte mich fertig.
Doch Wolfi, der ja nun für das ganze Team verantwortlich war, hatte wohl andere Sorgen. Er war in die Kritik geraten, weil er Athleten wie Frank Löffler angeblich offen zum Abhungern gedrängt hatte. Und er brauchte dringend Erfolge, um aus der Schusslinie zu kommen. Doch die lieferten jetzt andere, etwa Michael Uhrmann und Georg Späth. In einem autorisierten Interview mit der BILD-Zeitung stichelte er sogar gegen mich: »Wenn Hanni um 13 Uhr nicht sein Mittagessen oder um 16 Uhr seinen Kuchen bekommt, kann seine Laune plötzlich schlecht sein. Martin ist flexibler, ein sehr intelligentes Kerlchen.«
Mein innerer Halt ging verloren
In diesem Frühjahr, Sommer und Herbst 2003 gingen nach und nach die letzten Reste meines inneren Halts, meiner Orientierung, verloren. Ich fühlte mich nicht mehr sicher. Zusätzlich verunsicherte mich, dass immer wieder irgendwelche Gerüchte und Interna nach außen drangen. Einmal holte ich die Mannschaft zusammen und bat darum, man möge nicht mehr über mich in der Öffentlichkeit reden. Ich kam mir fast vor wie im »Big Brother«-Container. Nichts blieb mehr privat. Mir fehlte zudem eine Vertrauensperson. Und ich spürte, dass die Vertrauensbasis zum Bundestrainer gestört war.
Etwas anderes kam noch hinzu: Ich fühlte mich zunehmend unfähig, Entscheidungen zu treffen. Bislang hatte ich mich immer auf mein Bauchgefühl verlassen können. Es signalisierte mir deutlich, was ich wollte und was nicht. Und wenn ich mich für oder gegen etwas entschieden hatte, war die Sache für mich klar. Aber jetzt zweifelte ich an jeder auch noch so kleinen Entscheidung, sobald ich sie getroffen hatte, und schwamm in einem ständigen Hinterfragen-Modus. Warum bin ich so müde? Habe ich was Falsches gegessen? Soll ich jetzt vielleicht was essen? Was soll ich essen? Ist das jetzt das Richtige? Was könnte ich stattdessen essen? Wie wirkt sich das auf mein Gewicht aus?
Diese Endlosschleife in meinem Kopfkino war zum Verrücktwerden. Am liebsten wollte ich jetzt alles stehen und liegen lassen. Ich fühlte mich total unzufrieden, unsicher, unglücklich. Ich schleppte mich durch die Tage, die Wochen, die Monate. Ich fühlte mich meist elend und ohne Energie. Und das Schlimmste war: Ich wusste nicht, warum.
Suche nach einem sicheren Platz: Am liebsten war ich ganz allein.
»Burn-out? Davon haben wir damals so gut wie nichts gewusst. Wir glaubten, Sven hätte einen vorübergehenden Schwächeanfall und ist vielleicht gerade besonders erschöpft – und dass er da durch Regenerationsmaßnahmen wieder rauskommt.« Wolfgang Steiert, da-maliger Bundestrainer der Skispringer
»Heillos überfordert«
Weltcupauftakt, Ende November 2003. »Die Bühne des Pressesaals im Ruka Ski Center nahe Kuusamo betritt also: die Fassade Sven Hannawalds. Gleichgültige Augen schauen aus dem ebenmäßigen Gesicht, die Miene wirkt leer wie ein ausgeräumtes Bücherregal. Sven Hannawald setzt sich, er sagt: ›Ich will so schnell wie möglich meine Form finden.‹ Und: ›Ich geh’ normal ran.‹ Und dann sagt er noch ein paar Unverbindlichkeiten.«
So hat mich Thomas Hahn in der »Süddeutschen Zeitung« beschrieben – und als einen Athleten, der »ebenso viel Genialität auf sich vereint wie Anlagen zur tragischen Figur«. Und weiter hat Hahn geschrieben: »Hannawalds Vorgaben sind klar: ›Ich guck nach wie vor nur auf mich. Dass wirklich das Paket Hannawald gut dasteht.‹
Denn er braucht den Erfolg, der Erfolg ist für ihn von einer fast existenziellen Bedeutung. ›Wenn natürlich keine Erfolge im Raum stehen‹, sagt er, ›das ist das Todesurteil, glaube ich.‹ Man müsste erschrecken, wenn er das ernst meinen würde. Aber die Chancen stehen gut, dass er sich einfach wieder nur in der Wortwahl vergriffen hat bei dem ganzen Theater um ihn herum, das ihn eigentlich heillos überfordert.«
Der SZ-Redakteur konnte nicht wissen, was damals mit mir los war. Ich wusste es ja selber nicht.
»Tiefer Fall«
Ich habe damals keine Zeitungen gelesen. Ich wollte mich nicht zusätzlich belasten. Ich
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