Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
rasch müde. Deshalb hatte ich in der letzten Zeit darauf verzichtet. Ich vertrug auch keine Milch und kein Obst. Auf Bananen, Camembertkäse und Mandeln reagierte ich – wie ein kinesiologischer Test zeigte – allergisch. Zum Schluss hatte ich mich vor allem von Müsli und Joghurt sowie Salat und Gemüse ernährt.
Jetzt wurde ich also auf eine »milde Ableitungsdiät nach F. X. Mayr« gesetzt: drei Mahlzeiten mit »wärmenden Speisen«, keine Rohkost. Morgens gab es Hirse, Dinkelsuppe oder Grießbrei mit Ahornsirup; mittags und abends Kraftbrühe, Kartoffeln und Gemüse, dazu eine »vorsichtige Eiweißzulage«, also Schinken, Putenbrust oder Fisch.
In den ersten Tagen brachte der junge Pfleger mein Essen auf mein Zimmer und plauderte ein wenig mit mir. Einmal machte er eine Bemerkung, die sehr wichtig für mich wurde. Er sprach davon, dass ich hier manch Unangenehmes noch einmal durchleben und nichts verdrängen sollte. Und dann brachte er dieses Beispiel vom Ball. Je länger man den unter Wasser drückt, umso mehr Kraft müsse man einsetzen – denn der Ball folgt nur einem Naturgesetz und muss nach oben. Ich verstand: Durch Hinausschieben wird’s nicht besser.
Nach gut einer Woche ging ich zu den Mahlzeiten nach unten in einen Nebenraum des großen Restaurants. Und nach etwa drei Wochen blieb ich nach dem Essen auch noch sitzen und hörte den Gesprächen zu. Am Tisch saßen mehrere Lehrerinnen, die vom täglichen Wahnsinn in ihrer Hauptschule erzählten, der sie schließlich in die Klinik gebracht hatte. Wie es fast unmöglich ist, die Schüler heutzutage zu Ruhe und konzentriertem Lernen zu bringen. Wie es fast unmöglich ist, noch den Lehrstoff durchzuprügeln. Und wie unmöglich sich viele Eltern aufführten. Ich fragte häufig nach weiteren Details. Auch, um nicht von mir selbst erzählen zu müssen.
Langsam normalisierte sich mein Hunger- und Sättigungsgefühl. Doch zwischendurch hatte ich immer wieder Heißhunger auf Süßes, und manchmal gönnte ich mir dann Mars, Twix, Toffifee & Co. Allmählich wurde mir selbst mein krankhaftes Gedankenkreisen ums Essen bewusst.
Der kleine Speiseraum in der Klinik. Ins große Restaurant mochte ich nicht gehen, weil mir der Kontakt mit vielen Menschen zu viel war.
Welchen Sinn machte meine Erkrankung?
Fast täglich hatte ich einen Gesprächstermin bei Nora, meiner Therapeutin. Mit behutsamen Fragen lenkte sie unser Gespräch. Oberstes Ziel der Therapie war es, dass mir bewusst werden sollte, was mich in den Burn-out gebracht hatte, wie ich meine tiefe Selbstwertkrise überwinden und künftig zu einer »ausgewogeneren Lebensführung« finden könnte. Nora versuchte immer wieder, die komplizierte Reise in mein Innerstes und in meine Vergangenheit in einfache Beispiele und Bilder zu packen und mich so darauf zu bringen, welche Ängste und Wünsche, Konflikte und Bedürfnisse mich ausmachen, mich bedrängten und unausgelebt blieben.
Unser Körper sei ganz stark ein Spiegel für das, was in der Tiefe mit uns vorgeht. Wenn sich unsere Seele für eine Weile in der Gänze nicht gespürt, abgeholt, geliebt fühle, dann signalisierte sie: Jetzt zeig ich’s dir! Zum Beispiel durch totale Erschöpfung. Raubbau, erklärte Nora, schlage sich irgendwann körperlich nieder. Der Körper reagiere auf Einseitigkeit oder auf fehlendes Glück. Und Glück – das sei ein vielfältiges Leben, in dem alle Bedürfnisse befriedigt werden. Nicht nur das Bedürfnis, ständig Topleistungen zu bringen und durch Leistung Anerkennung zu finden.
Es fiel mir schwer, zu erkennen, dass meine Erkrankung einen Sinn haben sollte. Sie war also ein Zeichen dafür, was mir im Leben fehlte und aus der Balance geraten war. Je mehr mir das bewusst würde, umso mehr würden sich Räume öffnen, in dem das Selbst lernen könne, was seinem Wesen gemäß ist, erklärte mir Nora. »Du solltest deinem Wesen, deinem wahren Selbst vertrauen. Es weiß, was es braucht. Nicht der Therapeut weiß es, das Selbst des Patienten weiß es. Diesen Selbstheitskräften kann man vertrauen.«
Das hilfreiche Bild von Baum und Borke
Mir ist noch ein schönes Bild in Erinnerung, dass Nora von den Ursprüngen seelischer Erkrankungen entwarf. Wir kämen alle mit einem System auf die Welt, das zwar noch entwickelt werden müsse, das aber schon sehr klug sei. Ähnlich wie ein Samen eines Baumes. Der wisse ja auch, wie er zu wachsen habe. Wenn aber die Bedingungen im Außen schwierig seien, gäbe es sozusagen Verwachsungen. So
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