Mein irisches Tagebuch
breitschultrig und hellhaarig, von kühnem Gesichtsschnitt. Aber wehe, man spricht ihn auf den vermuteten Ursprung an. Dann legt er sofort los, daß »Neill« nur die offizielle Schreibweise seines Vornamens ist, daß er bei sich und den Seinen »Niala« (sprich »Nihl«) heißt und sich zu den Nachfahren der vorkeltischen Urbevölkerung zählt. Das berichtet er lächelnd, ohne den Anflug von Doktrinärstem oder Fanatismus, aber durchaus bestimmt.
Neill S. ist, wie eine lange Kette seiner Vorfahren, in Dublin geboren, sechsfacher Vater (fünf Jungen, ein Mädchen) und Lenker eines Privattaxis, das ich jederzeit telefonisch erreichen kann. Im Verkehrsmoloch Dublin den eigenen Wagen zu benutzen könnte nur einem Neuling oder ganz und gar Ortsunkundigen einfallen. Da ich aber wunderbarerweise gegen alle Erwartungen für meinen alten Ford einen verbotsfreien und dazu noch kostenlosen Parkplatz ergattert habe, lasse ich mich von diesem vermuteten Nachkömmling irischer Ureinwohner durch die dauerverstopften Straßen Dublins kutschieren. Was Neill S. mit ebenso professioneller Könnerschaft wie großer persönlicher Auskunftsbereitschaft honoriert.
Und so werde ich denn auf den Touren zwischen Phoenix Park und Marino, Phibsborough und Dolphin’s Barn, Inchicore und Ringsend informiert, daß Neill S. heutzutage - als Mann am Steuer - keinen Alkohol mehr trinkt. Und das in striktem Gegensatz zu jenem Lebensabschnitt, als er vor den Küsten Nordafrikas und im Marmarameer auf Bohrinseln nach Öl gegründelt hatte, Knochenarbeit, »die selbst ein Abstinenzler ohne Suff keine drei Tage durchgehalten hätte«. Zwar war die Bezahlung gut, für die Steuer aber leider das irische Finanzamt zuständig, was zusammen mit der health distribution, der Gesundheitsabgabe, den Schwund von mehr als der Hälfte des Lohns bedeutete. Doch jetzt, als selbständiger taxi-driver, »kann ich eine Menge absetzen«. Gerade hat er für die Familie ein Haus gekauft und ist dabei, es einzurichten.
Ein lebendes Beispiel dafür, daß fast achtzig Prozent der Iren von heute Hausbesitzer sind, »mit Abstand der höchste Anteil auf der ganzen Welt, gemessen an der Gesamtzahl der Bevölkerung«, wie Neill S. nicht ohne Stolz kommentiert. Gleich darauf vermeldet er mir einen weiteren Grund für den Drang zum eigenen Haus: Da auch seine Brüder mit zahlreichem Nachwuchs gesegnet sind und ihre Herkunft geradeso wie er in die Urzeit verlegen, ist die Sippe dabei, den vorkeltischen, den Stamm der »echten Iren« zu mehren.
Wie schön, daß Neill, wenn er dieses Thema berührt, noch jedesmal lacht und ihm so die doktrinäre Note nimmt.
An seinem vor einigen Jahren verstorbenen Vater, einem Polsterer von Beruf, muß er sehr gehangen haben, denn er erzählt immer wieder von ihm. Padraig S. hat die Insel nie verlassen und ist nie auf einem Schiff gefahren oder in ein Flugzeug gestiegen -»ein stationäres Leben, wie es heute kaum mehr vorstellbar wäre«. Jeden Sonntag hielt er Hof mit einem opulenten Frühstück, auf das Neill und seine vier Brüder sich königlich freuten, ein Ritual, das den Vater noch jedesmal provozierte, seine Kenntnisse der gälischen Sprache zum besten zu geben.
Und an dieser Stelle wird nun plötzlich eingestandenermaßen ein Schwachpunkt sichtbar, den allerdings die große Mehrheit der modernen irischen Gesellschaft mit Neill S. teilt: Wie sie kann er sich trotz seiner Traditionsverbundenheit in der gäli-schen Sprache nur noch brockenhaft ausdrücken. Und das ungeachtet zahlreicher offiziell und privat geförderter Anstrengungen der Gegenwart, das Spracherbe zu erhalten und zu verbreiten - Bemühungen, die zuweilen krampfhaft wirken und Züge von Fanatismus annehmen können.
Neill S. jedenfalls, obschon vorkeltisch fixiert, empfindet sein gälisches Sprachdefizit offensichtlich als beschämend, denn bei dem Bekenntnis will ich einen Anflug von Röte in seinem verwegenen Gesicht bemerkt haben.
Sonst ist er eine wahre Fundgrube für Antworten auf neugierige Fragen, weshalb mir seine Kommentare oft wichtiger sind, als rasch an die genannte Adresse zu gelangen. Während Neill S. mit Bravour, aber ohne jedes Rowdytum am Steuer, die Northumberland Road hinunterprescht, vor dem Goethe-Institut am Merrion Square hält, parallel zum Grand Canal fährt oder über Ballsbridge eine Adresse an Dublins Peripherie zu erreichen sucht, erfahre ich von ihm: daß ein großer Teil der akademischen Jugend verstärkt auswandert, weil er im eigenen Land
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