Mein irisches Tagebuch
keine qualifizierten Jobs findet, es hier keine Wehrpflicht gibt und nie gegeben hat, die fünfziger und sechziger Jahre berüchtigt dafür waren, daß in der Hauptstadt und anderswo zugunsten von Immobilienhaien an der georgianischen Bausubstanz schamlos Raubbau getrieben wurde (»was heute so nicht mehr geht«) und daß das Umweltbewußtsein gewachsen ist dank der Grünen - »the Green Party«, die es nun auch in Irland gibt.
Es macht einfach Spaß, mit ihm durch Dublin zu fahren, und es ist lehrreich obendrein.
An diesem Junimorgen nun bestätigt mir Neill S., daß er niemals, zu keiner Zeit seines Lebens, am General Post Office vorbeigefahren oder -gegangen sei, ohne ein besonderes Gefühl im Herzen zu haben, ein merkwürdiges Kribbeln, wie an keiner anderen Stelle Dublins.
Auch nicht beim Anblick des Trinity College, der Universität der »Dreieinigkeit«, deren voller akademischer Titel lautet: Collegium Santae et Individuae Trinitatis iuxta Dublin a Sere-nissima Regina Elisabetha fundatum - und wo ich jetzt aussteige.
Und dann betrete ich, vorbei an den Standbildern von Oliver Goldsmith und Edmund Burke, den Campus der Universität, die 1591 von der englischen Königin Elisabeth I. zu dem ausdrücklichen Zweck gegründet worden ist, »die Iren zu zivilisieren«. Dabei muß die Tochter Heinrichs VIII. nur die Söhne der Besatzer für Iren gehalten haben, denn andere konnten sich an dieser protestantischen Eliteschmiede bis 1793 nicht immatrikulieren. Es bedurfte keines Hinweises »Katholiken unerwünscht«, da ihr Ausschluß selbstverständlich war. Noch einmal achtzig Jahre hatte es gedauert, bis 1873 akademische Grade an Katholiken verliehen wurden, und erst 1904 durften Frauen,protestantische und katholische, durch das hölzerne Tor vor den Campanile, den Glockenturm, treten, von dem jetzt mächtige Schläge dröhnen - das Signal, die Pause zu beenden und zu den Examina zurückzukehren. Für den Studenten neben mir scheint das allerdings nicht zu gelten, denn unbeeindruckt beißt er kräftig in seinen Toast mit Salat und liest in einem Buch weiter.
Ich sitze auf einer Bank des Library Square, an einem Rasen von solchem Grün, wie es nur die Tradition britischer Gartenkultur hervorbringen kann, wenngleich hier verunziert durch ein Schild »Please keep off the grass«. Vor mir, jenseits des geschotterten Vorplatzes, des Parliament Square, die Rückseite der langen Eingangsfront, mit der blauen Uhr im steinernen Dreispitz über dem viersäuligen Innenportal - golden blitzen Zeiger und römische Ziffern herüber. Wer alles ist unter dem schmalen Halbrund ein- und ausgegangen -Jonathan Swift, Thomas Moore, Oscar Wilde, Samuel Beckett, um nur wenige zu nennen, nicht zu vergessen Mary Robinson, die Präsidentin.
Hunde und Hausierer allerdings durften zu keinem Zeitpunkt den Campus betreten, dürfen es auch heute nicht, wie das Verbotsschild am Eingang unmißverständlich gebietet.
Hinter mir, in der Mitte des Rasens, als wäre das 400jährige College darum herumgebaut worden, ein Baum. Wie gedrechselt, in sich gewunden, wächst er aus der Erde hervor, um weiter oben dann fünf ebenso gewaltige wie selbständige Stämme in die Breite und die Höhe auszutreiben. Eine Naturkathedrale, so alt vielleicht wie diese Mauern und Gebäude, die Dining Hall, der große Speisesaal, die Kapelle (the Chapel) und die Examination Hall, zu der hin die Studentinnen und Studenten nur so strömen, eingeschlossen nun auch mein Nebenmann, der jetzt das Buch zuklappt und sich aufmacht - jetzt wird’s ernst.
Was ich hier suche, ist älter als das Trinity College und sein erhabenes Baummonument, viel älter, aus dem 8. Jahrhundert und einzigartig dazu: ein Höhepunkt keltisch-christlicher Kunst, die kostbarste Handschrift, die je überliefert wurde, ein in Großbuchstaben geschriebenes, unvergleichlich dekoriertes und überwältigend farbenprächtiges Originalmanuskript, das Staunen der ganzen Kulturwelt, »Irlands Kronjuwelen« - »The Book of Kells«!
Schamhaft suche ich nach ihm, mit schlechtem Gewissen vor mir selbst, 25 Jahre nach meinem ersten Aufenthalt in Dublin endlich einen während der Drehhatz fürs Fernsehen immer wieder aufgeschobenen Vorsatz zu verwirklichen. Dies mit der Entschuldigung, daß ich in der Tat damals nicht jene Muße hatte, wie ich sie mir für mein Buch nun nehme.
Einen eigenen Eingang hat es, das »Buch von Kells«, und im Longroom der Bibliothek ist es ausgestellten der Mitte des Raumes, unter
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