Mein irisches Tagebuch
Kells« an den Tag, voller Phantasie und bekennerisch durchgehalten: eine Sinnlichkeit fürs Körperliche, eine Unbefangenheit gegenüber menschlicher Leiblichkeit und Sexualität. Sie trennt die Schöpfer des Buches, wenn nicht vom Christentum ihrer Ära, so doch unaufhebbar von dem Lust-und Liebeskrampf, von der heuchlerischen Prüderie der päpstli-chen Amtskirche, deren Arm damals noch nicht bis Irland reichte.
Hier lebte noch etwas Heidnisch-Natürliches, hier, so fern von Rom, schien die Verteufelung des Fleisches noch unbekannt. Es wimmelt nur so von phallischen und vaginalen Symbolen, Andeutungen und Direktheiten, von kopulierenden Schlangen, rolligen Katzen und geilen Katern, von ausgefahrenen Penissen und unmißverständlich demonstrierten Orgasmen. Eine schwellende Vorstellungskraft tobt sich hier aus - an Fischen, Blumen, barock ausgeschmückten Vogelgestalten.
Berührend dann aber auch wieder die religiöse Andacht, verfremdet etwa in Gestalt der vier Evangelisten: Johannes erscheint als Adler, Lukas als Stier, Markus als Löwe und Matthäus als Engel, eingebettet in einen Rahmen kunstvollster Ornamentik und farbenprächtigsten Dekors.
Stellenweise wollen mir die Folien vorkommen wie eine vexierbildhaft versteckte Huldigung an das Hohelied Salomons, seine kalligraphische Ergänzung und Ausschmückung. Aber weit über das Geschlechtliche und Geschlechterhafte der Liebe hinaus wird auch ihre Universalität beschworen, dringt eine Botschaft hervor, über das Götdiche nicht das Menschliche, das Allzumenschliche zu vergessen - seine Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit, seine Ängste, seine Nöte und Hoffnungen.
Daß der Nachwelt dieses Wunderwerk erhalten geblieben ist, grenzt nach allem, was wir wissen, selbst an ein Mirakel.
795, vier Jahre nach Beginn der Arbeit, spüren die Wikinger die Insel auf und hausen dort, wie sie überall, wohin sie damals kamen, gehaust haben: Sie brandschatzen, vergewaltigen, rauben und morden. Man muß die zeitgenössischen Chroniken Europas über den Wikingersturm einmal genauer studieren, um die These späterer Historiker ad absurdum zu führen, es habe sich nicht nur um Zerstörer gehandelt. Das mag dann mit den Staatsgründungen in der Normandie, auf Sizilien und England an Blindwütigkeit eingebüßt haben, aber die kamen spät, waren ebenso mit Blutvergießen verbunden und änderten nicht das mindeste an dem Schreckensstatus, den sich die Nordmänner redlich und bewußt erworben hatten, so weit ihre Drachenboote sie brachten.
Beim ersten Überfall konnte das Buch noch vor ihnen bewahrt werden, aber da es sicher war, daß die Wikinger wiederkehren würden, stand die Arbeit fortan unter dem Druck unheilvoller Erwartungen. Und das völlig zu Recht, denn neun Jahre später, 806, wurde die Insel abermals von den Wikingern heimgesucht, und diesmal starben 86 Menschen, darunter auch Abt Connachtach. Er wurde am Eingang zum Scriptorium so lange geschlagen und getreten, bis er tot war.
Auf den zweiten Überfall jedoch war man auf Jonas vorbereitet gewesen. In einer Bucht ankerte ein ständig segelfertiges Schiff, auf das nun, buchstäblich bei Nacht und Nebel, das kostbare Werk geschafft und über See ins Innere Irlands gebracht wurde. Mit an Bord die überlebenden Kalligraphen samt ihren Utensilien, den Häuten und Pinseln, den Federn und Farben, den Zirkeln, den Linealen - und dem unerschöpflichen Vorrat ihrer künstlerischen Phantasie.
Die vollendete Anfang des 9. Jahrhunderts das grandiose Werk an einer Stätte, die dem Evangelienbuch den Namen geben sollte - in der Einsamkeit des Klosters Kells.
Noch heute strömt dieser rund sechzig Kilometer nordwestlich von Dublin im County Meath gelegene Platz etwas von jener ungeheuren Ruhe und Abgeschiedenheit aus, die für die Ortswahl der elitären Flüchtlinge zur Fortführung und zum Abschluß ihrer Arbeit ausschlaggebend gewesen sein mochte.
Auf dem alten Klostergelände ein phantastischer Anblick: Hochkreuze mit der Würde der Jahrtausende, darunter einige der ältesten und größten Irlands überhaupt; ein Wald von Grabsteinen, rissig, geborsten, besetzt von Schimmel und gelben Pilzen; der schartige, von Wind und Wetter verwetzte, dachlose Rund turm, von dem damals wohl manch banger Blick der glücklich Entkommenen den Horizont gestreift hat, ob die rothaarigen Verfolger sie nicht auch hier entdecken und die Fertigstellung des großen Werkes zuschanden machen würden.
Aber die Gefahr kam weder von dieser Seite noch
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