Mein irisches Tagebuch
Glas. Das Licht ist ausgeschaltet - »The light would harm the book«, erläutert dezent und um Verständnis heischend die Aufsicht. Ja, in der Tat, das Licht würde das Unikat beschädigen, also wird mühevolles Lesen zum kleineren Übel.
Es herrscht eine seltsame Atmosphäre, eine Mischung zwischen Neugierde und Ehrfurcht. Ein blondes Mädchen hat sinnend die Arme auf den Rand des Tisches gestützt, starrt durch das Glas und rührt sich nicht vom Fleck, obschon sich andere Besucher sammeln. Es ist alles so eingerichtet, daß es vor der temperierten Vitrine selbst keinen Massenandrang geben kann, nur Einzelbetrachtung.
Und da liegt es vor mir, »the Book of Kells«, von dem hier an jedem Tag eine neue Seite aufgeschlagen wird - heute ist es Folio 292, das Porträt von St.John, dem Evangelisten Johannes. Erster Eindruck: Nie habe ich solche Farben gesehen, solches Grün, solch magnetisches Rot. Ich starre auf labyrinthische Kalligraphien, Zeile um Zeile; auf Figuren, in die man hineinkriechen möchte, um in die letzten Ziselierungen der Miniaturen zu gelangen. Wie nötig das wäre, zeigen vergrößerte Kopien an den Wänden, angestrahlt von Licht - Folio 174 und 175, ornamentos bis in die letzte Fiber, auf der Fläche eines Daumen nagels mikroskopisch fein ausgefeilte Panoramen.
So unglaublich das Werk, so unglaublich die Geschichte dieses Buches der vier Evangelien.
Als Ort seiner Entstehung wird ein Felsen an der Westküste Schotdands genannt. Auf Seite 201 hält die rechte Hand des Evangelisten Lukas den oberen Teil des Wortes »Jona«, ein Name für die Insel Jonas. Dorthin hat der irische Mönch Con-nachtach (»hervorragender Schreiber und Abt von Jona«) im Jahr 791 die begabtesten Künstler und Schönschreiber der damals bekannten Welt gerufen. Und sie kamen, kamen in den Nebel des Nordens und der Irischen See - aus dem nahen England, dem fernen Byzanz, aus der Sonne Italiens. Sie kamen aus einer Welt, die sich vom Untergang Roms, von den Nachbeben der Völkerwanderung immer noch nicht erholt hatte und deren christliches Kraftzentrum sich längst von der Kurie im Vatikan an den westlichen Rand des Kontinents verlagert hatte, nach Irland, dem Ursprung der triumphalen Rechristianisierung einer in Trauer, Kriegsnot und Finsternis gefallenen abendländischen Welt.
Dort oben auf Jonas sollte etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Einmaliges entstehen, und dafür wurden keine Mittel gescheut - das im 6.Jahrhundert vom Heiligen Columba gegründete mönchische Gemeinwesen war ein reiches Kloster. Üppiger, schöner, verschwenderischer sollte kein Buch je illustriert worden sein noch künftig werden. Es heißt, daß allein 185 Kälber geschlachtet wurden, um aus ihrer geschmeidigen Haut das beste aller Pergamente herstellen zu lassen. Die Rohmaterialien und Ingredienzien für Farben - fur Ultramarin, Karminrot, fur ein Gelb, leuchtender als die Sonne - lieferten die Vorgebirge des Himalaya, der Hindukusch und Pamir, Persien und die Arabische Halbinsel, aber auch Frankreich und Spanien. Allein die Namen der Schreibgeräte und -flüssigkeiten, wortgeronnene Poesie, wollen mir auf der Zunge zergehen: ink purple (Purpurtusche), brownish iron-gall (Braun von eisengalliger Farbe), Tinten, schwärzer als Kohle (black carbon ). Und dann heißt es über die zartesten, leichtesten, duftigsten Pinsel, die Schwung- und Schwanzfedern von Gänsen oder Schwänen: »Their pens were quills of the tail feathers of geese or swans.« Und es waren die begabtesten Hände des Zeitalters, die sie führten.
Eine erlesene Schar großer Künstler muß da am Ende des 8. Jahrhunderts auf Jonas zusammengekommen sein, ein Gremium von Hochindividualisten, sicher für Abt Connachtach schwerer zu hüten als ein Sack voll Flöhe, aber von explosiver Kreativität. Es ist überliefert, daß zwei von ihnen die primi inter pares gewesen sein müssen, Meister ihres Fachs, der eine vermuteterweise ein Schotte, die uralte künstlerische Technik der Kelten im Blut, der andere ein vibrierender Südländer mit entgegengesetztem Temperament, aber beide am Werk als Duo unübertrefflich.
Der eingeflochtene Metallreichtum frappiert ebenso wie die Feinarbeit im kleinen, kleinsten und allerkleinsten. Betrachtet man, zum Beispiel, den Kopf des Lukas unter einer Vergrößerungslinse, dann offenbart sich an diesem Bildnis von kaum einem Zentimeter, daß Augen, Brauen und Pupillen ausgearbeitet sind wie auf einem Gemälde. Und noch eines kommt durch das »Book of
Weitere Kostenlose Bücher