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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Avenue, und das nicht zufällig. Denn faktisch geht es in Dublin um zwei jüdische Gemeinden mit zwei Präsidenten und zwei Vorständen. Tendenzen, beide zu einem Jewish Center zu vereinen, sind wohl da, aber nicht vielversprechend.
    Ich hocke im ersten Stock vor den alten Thorarollen und denke: Wann immer es während meiner Aufenthalte in Irland, den früheren und diesem, längsten, je zur Sprache kam, daß ich Jude bin, nie gab es auch nur die Spur einer Reaktion, die mich hätte befremden oder verletzen können, kein einziges Mal. Und dennoch muß ich an den Abschnitt in James Joyces »Ulysses« denken, wo es heißt: »Achten Sie auf meine Worte, Herr Däda-lus, England ist in den Händen der Juden. In allen höchsten Stellen: in der Finanz, in der Presse. Und das ist immer ein Zeichen für den Verfall einer Nation. Wo die sich zusammenfinden, fressen sie die Lebenskraft eines Volkes.« Antizipierte Hitler-Zitate, gemünzt auf eine Zeit, 1904, in der Irland ein Teil von »England« war, zwar später geschrieben, aber mit der ganzen Erinnerungskraft des Autors an jene Zeit.
    Sie heilen mich von dem wunderbaren, aber offensichtlich unerfüllbaren Wunsch, wenigstens Irland, mein Irland, möge doch ein Land ohne Antisemitismus sein. Das ist vielleicht die schwerste Belastung aus der Hypothek des selbst Erlebten: sich nicht, sich nie in Sicherheit zu wähnen. Und genau damit, mit diesem eingefressenen Lebensgefühl permanenter jüdischer Verunsicherung, werde ich auch hier konfrontiert.
    Was in diesem Kapitel über die jüdische Geschichte Irlands an Informationen steht, die zu meinen vorherigen dazugekommen sind, das habe ich im Gespräch mit dem Vizepräsidenten des Irish Jewish Museum erfahren. Asher S. ist ein liebenswürdiger Herr, den ich auf mein Alter schätze, also über siebzig. Ais sich herausstellt, daß ich ein Überlebender des Holocaust bin, will mir seine Haltung auf eine bekannte Weise distanzierter erscheinen. Das habe ich oft erlebt bei Juden, denen solches Schicksal erspart geblieben ist, obwohl es sie dem Alter nach hätte ereilen können, wenn sie in Hitlers Gewalt gewesen wären. Bei aller Grundlosigkeit ist es eine Art schlechtes Gewissen, daß es einem in jener Ära selbst besser ergangen ist als dem Gegenüber, ein Umstand, der dialoghemmend sein kann. Ich habe meine Methode, das zu überwinden, und es gelingt auch diesmal.
    Asher S. stellt Fragen, die keinen Zweifel lassen, daß er sich intensiv mit der industriell betriebenen Ausrottung der Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt hat. Wie auch ich, befaßt er sich dabei immer intensi-ver mit dem Zeitraum der Vorhölle, also den Etappen der Entrechtung bis zur Deportation an den Rand der Vernichtungshöllen Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Chelmno, Belzec. Dabei kommt Asher S. immer wieder auf einen bestimmten Punkt zurück: »Die Juden wurden in Viehwaggons gesperrt. Sie wurden da hineinverfrachtet, um ihnen klarzumachen, daß sie nicht besser als Vieh waren. Das war für die Verfolger eine wichtige Etappe der Entmenschlichung ihrer Opfer. Sie waren eigentlich schon tot, als sie ankamen.«
    Dann merke ich, wie Asher S. die Rede langsam davon abbringt und auf Brüssel kommt, auf die EG, auf die Vereinigung Europas und ihre Probleme. Zunächst erkenne ich keinen Zusammenhang, aber dann, Stück um Stück, wird die Kausalität sichtbar und was Asher S. zu erforschen sucht, wird mir klar, worum es sich handelt. Nämlich um die potentiellen Gefahren, die ausgehen von einer Brüsseler »Bürokratur«, wie er es nennt, einer Diktatur der Paragraphen, die keine Beziehungen zur sozialen und ökonomischen Wirklichkeit Europas und seinen Ländern hätten und von denen die schwachen Staaten am härtesten getroffen werden könnten. »Allen voran das subventionsverwöhnte Irland«, sagt Asher S. und schaut mich eindringlich an.
    Erst da begreife ich.
    Asher S., der sein ganzes Leben in Irland zugebracht hat, dem alle persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus erspart geblieben sind, für den die Anschläge auf die Synagogen in Paris und Istanbul, die Ermordung von Juden durch muslimische Fanatiker in Israel, dem Vorderen Orient und anderswo Zeitungslektüre sind - Asher S. fürchtet, daß die Auslösung wirtschaftlicher Nöte durch eine schlechte Europapolitik in Irland sofort zur Suche nach Sündenböcken führen würde, und daß das wieder nur Juden sein könnten: Hep hep - »Hierosolyma est perdita«! (»Jerusalem

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