Mein irisches Tagebuch
Uhr früh unabhängig voneinander, aber auch zusammen, durch die Stadt an der Liffey streunen, das ist der ungeheuerlichste Trip, der je aufgezeichnet worden ist. Daß er ausgerechnet am 16.Juni 1904 startet, hat eine elementare biographische Begründung.
James Joyce wird am 2. Februar 1882 im Dubliner Viertel Rathmi-nes geboren als eines von zehn Kindern der Maryjanejoyce und des John Stanislaus Joyce. Der Vater ist ein notorischer Trinker, der seine Frau würgt, die Nachkommen verprügelt und ihnen früh nicht nur körperliche Wunden schlägt.
Mit sechs kommt James auf das vornehme Jesuiteninternat Clongowes Wood, muß es aber wegen finanzieller Schwierigkeiten des Vaters 1891 verlassen - nur der Anfang eines irritierenden Wechsels von Schulen, der dem Wanderleben der Familie entspricht. Von Blackrock, einem Vorort Dublins, beginnt eine Umzugsorgie, die die Familie in elf Jahren neunmal von einer Wohnung in die andere verschlägt, oft genug auf der Flucht des Vaters vor seinen Gläubigern. Es war ein Hungerdasein, das Joyce später als »grotesk« und »absurde Narrenexistenz« bezeichnet hat. Über die Situation der Familie im Juni 1904 gibt ein Brief seines Bruders Stanislaus Aufschluß: Nahrung sei eine gute Sache und Wärme auch. Für Tage habe es unzureichend zu essen gegeben, und das auch nur, weil Kleider und Schuhe versetzt worden seien.
James Joyce hat diese fürchterliche Zeit nie vergessen, sie wohl aber mit einer spirituellen Kraft ohnegleichen überwunden und die ohne Betäubung ausgeätzte Wunde in sein Werk transformiert.
Man darf jedoch zweifeln, ob ihm das gelungen wäre ohne die Frau, der er am 10. Juni 1904 in Dublin, Ecke Nassau Street/Mer-rion Square, begegnete: Nora Barnacle, ein Mädchen vom Land, County Galway. Sie läßt sich von ihm ansprechen, weist aber seinen Vorschlag, sich mit ihm zu treffen, zurück. Der entflammte Freier wird jedoch dadurch nicht entmutigt, sondern sucht sie am Lincoln Place in dem Hotel auf, wo Nora Barnacle als Zimmermädchen arbeitet - und diesmal stimmt sie zu. Treffpunkt wird der Strand von Irish Town, Ringsend, und das Datum ihres ersten Rendezvous ist der 16. Juni 1904.
Nora Barnacle, diese nach landläufigen Maßstäben ungebildete Frau, war der Glücksfall seines Lebens, der Quell seiner Ausdauer und seiner Inspiration, obschon sie nichts begriff, was er schrieb: »Das Buch ist ein Schwein« war ihr Kommentar zu »Ulysses«. Das Defizit störte Joyce nicht im geringsten, es hatte keine Bedeutung für ihn, weil die Wurzeln seiner Liebe sich woanders eingegraben hatten. »O sag mir, meine süße Geliebte, daß Du jetzt mit mir zufrieden bist. Ein lobendes Wort von Dir erfüllt mich mit Freude, einer sanften, rosengleichen Freude«, schreibt er ihr am 31. August 1909 aus der Abhängigkeit seines großen Schriftstellerherzens. Mag sie tiefer gewesen sein als die ihre von ihm, die Unlösbarkeit ihrer gegenseitigen Bindung lag jenseits von Formalitäten. Geheiratet hat er Nora Barnacle, die ihm 1905 einen Sohn, Giorgio, und 1907 eine Tochter, Lucia, gebar, erst 1931. Damals waren beide seit 27jahren Emigranten -sie hatten Irland am 8. November 1904 verlassen.
Außer einigen kurzen Besuchen, der letzte 1912, istjamesjoyce nie mehr zurückgekehrt. Es hatte das begonnen, was er selbst »die jahrelange Plackerei als Vagabund« genannt hat, die große eigene Odyssee in der Fremde, in Frankreich, Italien, der Schweiz - fern von Irland.
Sehr wahr, er hat Dublin heftig geschmäht, hat es eine »widerwärtige Stadt« genannt, eine Stadt des Versagens, der Ranküne und der Unglückseligkeit, mit ekelhaften Einwohnern, die er verachte und hasse. Nicht anders urteilt er über Irland, das er rückständig und inferior nennt, ein Land, das »Gott zu einer immerwährenden Karikatur bestimmt hat«. Aber das ist nur die halbe Geschichte, damit ist keineswegs schon alles gesagt über das komplizierte, in sich tief widersprüchliche Verhältnis von Joyce zur Stadt seiner Geburt und der beiden ersten Lebensjahrzehnte. Es gibt die Indizien einer geheimen Ankettung, die von den Schmähungen nicht erreicht wird. So, wenn er das verfluchte Dublin verschämt »eine europäische Hauptstadt« nennt, oder wir in einem Buch des Schweizer Literaturprofessors Jaques Mercanton, der Joyce während der dreißiger Jahre in Paris besucht hatte, sein Geständnis lesen können: »Meine Frau haßt ihre Herkunft und Heimat. Ich aber bin treu.«
Er, der mit 23 Jahren an den Verleger Grant
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