Mein irisches Tagebuch
Glücksfall und ihr Schmerzenskind zugleich - James Joyce.
Ich aber bin treu
»FORTY FOOT - Gentlemen only« - so weist in heller Schrift auf dunklem Grund an der Küste südlich des Fährhafens Dun Laoghaire ein Schild den Weg zum Nacktbadestrand von Sandycove. Blanke Felsen, Metallgitter, verwitterte Kabinen, ein schrecklich gelbes Wärterhäuschen und unten, verwegener Anblick, meist hüllenlose Männer - auf dem Sprung ins wogende Wasser oder schon in den Wellen. Einer von ihnen,gerade den Fluten entstiegen, wringt seine Badehose aus, während andere, die schon gebadet haben oder es noch wollen, hier oben auf der Felsplatte in Hemd und Hose sitzen, lesen oder den tapferen Schwimmern da unten drastisch kondolieren: Obwohl dem hiesigen Kalender nach jetzt, Anfang Juni, Sommer ist, hat die Irische See die Temperatur der Nordsee bei Frühlingsbeginn.
Einige Schwimmer, von hier nur noch rote Badekappen und rudernde Arme, haben sich so weit entfernt, als wollten sie Holyhead an der walisischen Gegenküste erreichen.
Ich darf, obwohl voll bekleidet, das heilige Nudistenareal »Nur für Männer« betreten, eine Genehmigung, die allerdings sofort ihren Huldcharakter verliert, als ich zwei Ladies unter der Plakette »Sandycove Bathes Association« erblicke, im Badeanzug, miteinander ins Gespräch vertieft und offenbar gänzlich unbeeindruckt von den nackten Männerhintern um sie herum. Da hat sich Starres, Altes gelockert, doch ist für neue Verbote und Gebote schon gesorgt: Schnorcheln und Tauchen mit Gerät sind strikt untersagt.
Der Wind weht, die See klatscht gegen die Küste, und ich gehe auf der Felsplatte ganz nach vorn. Und erst von hier wird es ganz sichtbar, das Prunkstück der Gegend, Sandycoves martialisches Relikt aus dem frühen 19. Jahrhundert - der Martello Tower!
Ragend erhebt sich der Klotz unter dem grauen Himmel, einer von 26 Wehrtürmen, die der Defence Act von 1805 in der Bucht von Dublin gegen die befürchtete Invasion napoleoni-scher Truppen erstehen ließ. Erbaut worden nach dem Vorbild der Türme von Cap Mortelia auf Korsika (dort, um die französische Insel vor britischen Angriffen zu schützen!), wurden die dräuenden Bastionen an Irlands Küsten alle nach dem gleichen Muster gemauert: vierzig Fuß hoch, acht Fuß dick, mit einem einzigen Eingang zehn Fuß über dem Grund und oben mit einem gun deck versehen, einer Plattform für Achtzehnpfünder, deren Kugeln eine Reichweite von einer Meile hatten. Nur brauchte keine einzige je aus den Rohren gefeuert zu werden - Irlands Martello Towers waren vollkommen umsonst errichtet worden.
Denn kein Segel der kaiserlich-französischen Kriegsflotte kam jemals auch nur in ihre Nähe, niemals richtete sich von See aus ein Kanonenschlund gegen die »Nußtörtchen«, wie die Martello Towers von einer erleichterten Bevölkerung spöttisch getauft worden sind, noch wurde je auf einem gun deck die Lunte gezündet. Vom Verlauf der Geschichte hohnvoll beschämt, eine sinnlose Verschwendung von Arbeit und Geld, dazu völlig untauglich, im »Ernstfall« wirklich etwas bewirken zu können, brüten die nutzlosen Martello Towers seither dumpf vor sich hin, so vergessen wie die antiquierten Motivationen, denen sie ihre Gammelexistenz zu verdanken haben.
Nur dieser eine, der Martello Tower von Sandycove, hat Weitberühmtheit erlangt. Hierher setzt alljährlich eine wahre
Wallfahrt ein, fiebert eine internationale Gemeinde einem sakralen Datum entgegen, verwandelt sich die Stätte an den Felsklippen von Forty Foot mit dem längst überholten »Gentlemen only« in einen brodelnden Hexenkessel. Denn in diesem Turm hauste für ein paar Tage, genauer: vom 9. September bis zur Nacht vom 14. auf den 15. September 1904, James Joyce!
Mit ihm der exzentrische Medizinstudent und werdende Dichter (budding poet) Oliver St. John Gogarty, der den Turm vom War Department für acht Pfund auf ein Jahr gemietet hatte, und Samuel Chevenix Trench. Joyce hat den Turm allerdings schon sechs Tage später fluchtartig verlassen, nachdem Trench von einem schwarzen Panther geträumt und blindlings ein Gewehr abgefeuert hatte.
Hier nun beginnt das gewaltigste Epos des Jahrhunderts, hier nimmt das literarische Kolossalgemälde »Ulysses« seinen Anfang.
Und wahrlich, der achtzehnstündige Irrgang des jüdischen Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom durch Dublin ist eine Odyssee sondergleichen. Wie Bloom da in zehn und Stephen Dedalus in acht Kapiteln zwischen acht Uhr morgens und zwei
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