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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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nächsten Woche hierher - an dem Tag.«
     

Mein irisches Tagebuch VIII
     
    16. Juni.
    Bloomsday, 8 Uhr 30, Sandymount, Promenade am Südufer der Dublin-Bucht. Es ist kalt, Ebbe und das Wasser so weit weg, daß es aussieht, als wäre das Fährschiff da draußen gestrandet. Drüben ist das »South Bank Restaurant«, eine der traditionellen Stätten, an denen sich die Joyceianer alljährlich an diesem Tag einfinden sollen, und zwar, hatte man mir gesagt, von sechs Uhr morgens an. Nun sind es schon mehr als zwei Stunden über die Zeit, und niemand ist zu sehen.
    Aber dann sind sie plötzlich da, als wären sie vom Himmel gefallen oder aus der Erde hervorgetaucht, die alten Kutschen mit den alten Kleppern, die Männer à la 1904 mit Strohhut, hellem Jackett, weißem Hemd, mit Fliege, Stock und Brille, wie »JJ« sie auf vielen Fotos trug. Damen ebenfalls in der Mode der damaligen Zeit, in langen Gewändern mit geraffter Schleppe, malerischen Hüten von abenteuerlichem Durchmesser und angesichts der fröstelnden Temperatur mit bemerkenswert tiefen Ausschnitten. Von allen Seiten jetzt auch Oldies der Marken Jaguar, Bendey und Rolls-Royce. In einem der vielen Kabrios zwei alte Herren, Strohhut, rote Fliege, die Hände in den Hosentaschen, in anderen dachlosen Karossen die Chauffeure in Leder, auch der Kopf, die Begleiterinnen mit erlesenen Schals um Hals und Haupt, und alle laut und fröhlich schnatternd und juchzend.
    So geht es hinein zum Frühstück ins »South Bank Restaurant«, wo viele der Gäste sich den ganzen Tag aufhalten werden, zuhörend, lesend oder zitierend - Joyce und Joyce und nichts als Joyce.
    Am Tower von Sandycove drängt sich eine Menge bis an den Rand von Forty Foot, die meisten in Alltagszivil, aber auch hier verkleidete Bloomsfiguren. Einer von ihnen, der mir auf der Wendeltreppe nach oben mit grüner Fliege und grünem Jackett begegnet, lasse ich selbstverständlich den Vortritt.
    Und dann stehe ich auf der oberen Plattform, dem alten gun deck, und da bin ich richtig, obschon ich vor Kälte klappere.
    1954 hatte Oliver St.John Gogarty geschrieben: »Wenn das Wetter warm war, badeten wir auf der oberen Plattform in der Sonne, immer mit ihr wandernd und windgeschützt.«
    Heute ist es hier oben kühl, viel zu kühl für die Jahreszeit.
    Ein Ring von jungen Menschen, sitzend oder stehend, Bücher von Joyce vor sich oder unterm Arm, den Nieselregen nicht beachtend, sozusagen die alternative Fanszene zur offiziellen der Betuchten. Neben mir eine Mutter mit Kind, den Strohhut auf der Erde vor ihren Füßen, im Gespräch mit einem jungen, ganz in Schwarz gekleideten Mann, der ein abgegriffenes Exemplar von »Ulysses« in der Hand hält. Ein anderer schlägt eine alte Ausgabe des Werkes auf, von Seeker & Warburg, worauf ein Dritter mit einem wahren Buchveteran desselben Titels hinzutritt und alle drei nun nach einer bestimmten Stelle suchen, um miteinander Texte zu vergleichen. Auf der Erde, bereits etwas durchnäßt und scheinbar besitzerlos, liegt ein Druck von »Finnegan’s Wake«, weiße Papierstreifen zwischen den Seiten. Ich warte, ob jemand das Buch aufnehmen wird, was lange dauert. Dann greift die junge Mutter danach, pustet die Tropfen vom Deckel und legt es unter den Strohhut.
    Bloomsday, n Uhr vormittags.
    Wer hier oben auf dem James Joyce Tower von Sandycove an diesem Tag weihevolle Stille erwartet hätte, Andacht und inniges Gedenken, der wäre überrascht, wie fröhlich gelacht und gescherzt wird. So kommerzialisiert das Ereignis auch immer sein mag, wie berechnend das »Happy Bloomsday« der Geschäftswelt schon am Tag davor, hier gibt es nicht die Spur von ambitionierter Kulturbeflissenheit, ist niemand, der Joyce sagt und das eigene Ego meint, versucht niemand, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Wetter allein schon macht die Anwesenheit zum Engagement.
    Weiter Blick von der Plattform nach allen Seiten.
    Drüben, an der Straße vor dem »South Bank Restaurant«, von hier gut zu erkennen, zittern die alten Klepper vor sich hin, während die Kutscher sich in Jacken und Mäntel gehüllt haben; weiter nach Norden der Fährhafen Dun Laoghaire (sprich Dan Liri), und rechts hinten, über die Liffey, der Hafen von Dublin mit den alles verschandelnden rotweißen Schornsteinen seiner Kraftstation.
    Gegen 13 Uhr Aufbruch von Sandycove nach Glasthule, etwas stadteinwärts, ein Knotenpunkt des Dubliner Bloomsday. Als ich nach kurzer Fahrt dorthin ankomme, sind die Straßen voll von

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