Mein irisches Tagebuch
Dublins ist einer der beiden künstlichen Wasserwege, die von der Liffey bis zum Shannon reichen, mit 44 Schleusen auf 132 Kilometern eine Meisterleistung irischer Ingenieure, die 1779 die Binnenschiffahrt zwischen der Irischen See und dem Atlantischen Ozean möglich gemacht hatte.
Das Pendant zum Grand Canal, sozusagen sein Stiefkind, ist der ebenfalls Mitte des 18. Jahrhunderts begonnene, aber mit großen Verzögerungen erst 1817 eröffnete Royal Canal im Norden Dublins. Seine Geschichte krankte auch weiter dahin, ehe auf beiden Wasserstraßen dann in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts jeglicher Transport von Guinness, Getreide, Torf, Dünger, Kohle und Baumaterialien eingestellt wurde.
Heute versucht die zuständige Behörde, das Office for Public Works, die Wasserstraßen für den touristischen Bootsverkehr wieder schiffbar zu machen, was anläßlich der Dubliner Tausendjahrfeier von 1988 zwar zu einer gründlichen Säuberung des Grand Canals führte, angesichts der notorischen Knappheit der Staatsfinanzen für die Rettung auch des Royal Canal jedoch kaum Aussicht läßt.
Daß der Grand Canal seit seiner Reinigung vor acht Jahren schon wieder stark verschmutzt ist, stellte ich fest, als ich in der Nähe der Baggot Street Bridge auf den Holzsteg einer Schleuse trete und unten Pappbecher, Plastikflaschen und leere Milchtüten entdecke. Die vielleicht zehn, zwölf Meter breite, algendurchsetzte Wasserfläche dagegen ist von Gras und Schilf gesäumt und bietet einen idyllischen Anblick, zumal ein halbes Dutzend Entlein in der vergeblichen Hoffnung auf Fütterung angeschwommen kommt. Doch selbst, wenn ich etwas parat gehabt hätte, es wäre mir aus der Hand gefallen, denn in dem Moment fiel mein Blick auf - Patrick Kavanagh!
Er sitzt da in voller Größe auf einer Bank, mit übergeschlagenen Beinen, den linken Arm über den rechten gelegt, neben sich den Hut und mit der Brille und dem nach hinten fliehenden Haaransatz geradezu erschreckend lebensecht. Ein bißchen schuppig sieht das alles aus auf dem schwarzen Metall, Jackett und Hose sind bestaubt wie die knorrigen Hände, in deren linker sich zwischen Daumen und Zeigefinger ein Blatt verfangen hat und dort verdorrt ist. Ein unheimlicher Anblick ist das zunächst schon, wenn man auf ihn nicht vorbereitet war, weil sie so lebendig wirkt, die dunkle Gestalt, als hätte sie lange unter dem mächtigen Ahorn gesessen und wäre dort, mitderweile grün und schimmelig, einfach vergessen worden. Aber rascher als gedacht gewöhnt man sich daran, weicht der kleine Schock schmunzelndem Staunen über soviel unbefangenen Umgang mit einem Dichter.
Hier soll er oft gesessen haben, an diesem trotz Verkehrslärm lauschigen Platz, und deshalb haben Freunde am 17. März 1968, dem Festtag seines Namenspatrons und Nationalheiligen, den Landwirt und Poeten Patrick Kavanagh in Gestalt dieser Figur am Grand Canal, Wilton Terrace, wiederauferstehen lassen - ein origineller, dauerhafter und von niemandem beanstandeter Nachruf. Im Gegenteil, am nächsten Tag sehe ich einige alte Damen in Rollstühlen um den stummen Dichter versammelt, schwatzend und sichtlich aufgeräumt, während ein junges Mädchen sich bedenkenlos auf seinen kalten Schoß gesetzt hat.
Ein gutes Bild ist das, finde ich, auch wenn mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden kann, daß niemand aus dem lustigen Kränzchen je auch nur einen Buchstaben aus Kavanaghs Feder gelesen hat.
Irische Erzähler kreisen immer wieder um die gleichen Themen -Freiheit, Armut, Liebe, Tod. Mögen das die Grundfacetten für Schriftsteller überhaupt sein, welcher Zugehörigkeit oder Nation auch immer, hier mischen sich Realitätssinn und Irrationales auf spezifische Weise, oszillierende Schicksale voll träumerischer Visionen, und doch stets mächtig verbunden mit dem Boden, aus dem sie wachsen.
Und das heißt: Was sich in die Lüfte erhoben hat, leicht und federnd, muß sich schließlich doch dem Gesetz der Schwerkraft beugen, muß in die Wirklichkeit zurückfallen, auf die Erde - down on earth -, und sich dort vollziehen. Aber nur, um sich in anderer, neuer Gestalt wieder zu erheben, so endgültig das Scheitern zuvor auch gewesen sein mag.
Der Gegensatz zwischen gewünschtem und faktischem Dasein, zwischen Sehnsüchten und ihrem Ausgang, er scheint mir die unerschöpfliche Energiequelle der irischen Literatur geblieben zu sein, über ganze Zeitalter von ihrer Entstehung bis in unsere Tage und ungeachtet aller sozialen und
Weitere Kostenlose Bücher