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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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kostümierten Männern und Frauen aller Lebensalter.
    An der großen Ladenscheibe der Fleischerei des Noel Kavanagh - »Quality butcher, fine beef« - klebt eine bunte Karikatur, »JJ« mit einem Schlachterbeil in der Hand. Rechts daneben, vor einem Pub, tanzen drei blutjunge Mädchen nach irischer Volksmusik. Mit spitzen Füßchen und akrobatischer Beinarbeit lassen sie die Röcke fliegen, treten ab, kommen wieder hervor und tanzen weiter, unermüdlich. Sie haben zwei Bretter auf den Weg gelegt, auf denen sie jetzt mit harten Schuhsohlen herumknattern, ein wilder Steptanz, dessen Rhythmen ins Blut gehen und die Passanten elektrisieren. Die Musik kommt aus einem Kasten, der von einer Dame mit grüngemusterter Schürze und rotbebändertem Hut bedient wird.
    Ladenbesitzer und ihre Angestellten schenken kostenfrei Wein aus oder reichen kaltes Geflügel, durch das offene Fenster eines Rolls-Royce gerade ein ganzes Tablett mit Hühnerbeinen. Die Straße ist voll von Nobelkarossen, darunter eine offene Cadillac-Donnerkutsche mit Speichenrädern, gesteuert von einer Lady, deren wehender Umhang bange Assoziationen wachruft zum Schicksal Isadora Duncans, der amerikanischen Vorkämpferin des freien Tanzes: Bei einer Autofahrt hatte sich ihr Schal in den Speichen verfangen und sie erdrosselt. Das geschah 1927, und ich bin hier offenbar der einzige, dem dergleichen durch den Kopf geht.
    Zurufe von Wagen zu Wagen, junge Leute mit Strohhüten in Kabrios, die Straße versperrt für alle, die nichts mit Joyce zu tun haben. Busse, Personenwagen, Caterpillars müssen einen anderen Weg finden. Zwei einsame Polizisten, die eine Weile versucht hatten, den Verkehr im Sinn des Gesetzes zu regeln, haben längst aufgegeben und den Joyceianern die Oberhoheit überlassen.
    Eine Dame mit langem Rock, Schleier und Reitpeitsche hält eine weiße Tasse in der Hand, geht unbeirrt über die gefährliche Hauptstraße von Glasthule und verschwindet sanft lächelnd in »Juggy’s Well«, während eine andere Irin mit weißen Schuhen, im Arm einen riesenhaften grünen Teddybär, am Straßenrand gelbe Rosen verteilt. Unterdessen tanzen die drei Mädchen vor dem Pub wie aufgezogen weiter, sprühend vor Bewegungslust, biegsam wie Weidengerten und auf dem Rücken einen Namen -Mary Macdonnell. Schließlich geht ihre Musik unter im ohrenbetäubenden Lärm einer Viermannband, die sich mit modernstem Verstärkergerät vor dem »Bistro Vino« aufgestellt hat und loslegt, was Saiten, Tasten und Atem hergeben - die Bloomsday-feier von Glasthule verwandelt sich in eine Klanghölle. Was aber niemanden zu stören scheint, besonders nicht jenen Mann, der sich ganz in der Nähe ein Handy ans Ohr hält, in das er mit verzücktem Lächeln spricht, wenn er nicht gerade, mit gleichem Ausdruck, auf das lauscht, was aus der Hörmuschel dringt.
    In einem Kabrio, das von einem Vater mit grüngestreifter Weste gelenkt wird, drängen sich fünfjungen im Alter etwa von neun bis fünfzehn, alle gleich kostümiert, mit Strohhut, grauem Zylinder und rotgestreiften Jacken. So tollen sie miteinander herum, vier auf dem Rücksitz, der jüngste vorn. Die Band vor dem »Bistro Vino« spielt gerade »Chattanooga choo choo«, daß es nur so in die Höhe und in die Breite knallt. Allein die drei Damen, die ich unmittelbar daneben durch die Scheiben eines Hair Saloon sehen kann, scheinen nichts zu hören - Hauben auf, unter denen ihnen die Locken onduliert werden, machen sie Gesichter, als befanden sie sich in einem schalldichten Raum.
     
    Abends dann bei »Davy Byrne’s«, Duke Street. Guinness in Strömen, Strohhüte, Fliegen, weiße Hemden, schwarze Jacketts, der Pub gerammelt voll, der Lärm ungeheuer. Wieso die Leute sich in diesem Stimmengewirr verständigen können, bleibt ein Rätsel.
    Aber dann geht es doch, denn mich spricht ein Herr an, der in der einen Hand einen Spazierstock hält und in der anderen den »Ulysses«. Er raucht eine Pfeife, die er nicht aus dem Mund nimmt, als er mich fragt, was mich, einen Ausländer, bewogen habe, die gestrige Veranstaltung im »James Joyce Center« zu besuchen.
    Tatsächlich war ich am Vorabend des Bloomsday an der Ecke Northquav/George Street gewesen, in dem georgianischen Haus mit dem schneeweißen Portal hatte eine Feier stattgefunden. Der brasilianische Botschafter hatte der Leitung des Hauses eine alte Ausgabe des »Ulysses« in portugiesischer Sprache überreicht, und ein Sänger mit bemerkenswerter Stimme nach Gedichten von Thomas

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