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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Sambesi oder Parana (wenngleich der irische Regen auch hier die Flut mächtig anschwellen lassen kann). Aber nirgendwo sonst habe ich in auch nur einem der Abflußbetten Steine gesehen, die so golden schimmerten wie hier, faustgroße, sonnenbeschienene nuggets, pures, wassergekühltes Edelmetall inmitten eines Stücks unversehrter Natur, über der ein himmlischer Frieden liegt.
    Aber dann sucht mich der nordirische Konflikt hier doch noch heim.
    Auf dem Rückweg zum Parkplatz begegne ich drei Damen gesetzten Alters, die mich an mein Corker Kränzchen erinnern, so wohlonduliert, weißgesichtig und very british, wie sie sind. Da kann es keinen Irrtum geben, wie sich bestätigt, als wir ins Gespräch kommen - Woher? Wohin? Aus welchem Land ich sei? - und sich die drei als einheimische Protestantinnen entpuppen.
    Sie leben in der Nähe von Ballymeha, County Antrim, in einem Ort, wo Protestanten eine Minderheit sind. Aber es gibt Verbindungen zu Katholiken. »Auch Bekanntschaften, gar Freundschaften?« frage ich. Ja, die gebe es auch, selbstverständlich, nach so langjährigem nachbarlichen Nebeneinander. Ich kann es nicht lassen und frage nach den Ursachen des Konflikts und der Verteilung der Verantwortung.
    Ach, hätte ich es doch nicht getan. Denn darauf verfinstern sich die Mienen, und die Wortführerin sagt, plötzlich schärfer: »Die Verantwortung liegt ganz bei der IRA und nur da.« Worauf ein Katalog der Attentate und Anschläge mit genauen Zahlen der Toten und der Verletzten folgt.
    Da mache ich einen zweiten Fehler, indem ich einzuwerfen wage: »Und wieviel Opfer haben die Anschläge paramilitärischer Ulster-Ultras gefordert?«
    Erstaunen, Verblüffung, Abwehr gegenüber solcher Frage. »Die Unseren«, sagt die Wortführerin, betont, »haben nie etwas anderes getan, als zurückzuschlagen. Die Ulster-Ultras«, sie dehnt das von mir gebrauchte Wort ironisch, »haben immer nur auf die Bomben und Schüsse der IRA reagiert.« Dann wiederholt sie: »Wir haben immer nur zurückgeschlagen.«
    Es ist unheimlich, wie im Lauf des Gesprächs, ohne daß es laut wird oder die äußere Gesittung verliert, Züge von Härte und Unduldsamkeit auftauchen. Die katholische Minderheit unterprivilegiert? Niemals, im Gegenteil. »Heute werden denen die besten Wohnungen zugeschanzt, profitieren Katholiken am meisten von der sozialen Fürsorge, sind sie die wahren Privilegierten.«
    »Wenn es so ist - es war doch nicht immer so?«
    »Doch - immer.«
    Wo bin ich? Alle drei Frauen sind in der Nähe meines Jahrgangs, also an oder über die siebzig, mit Geburtsdaten in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre. Sie müßten es also besser kennen, aber sie wissen es nicht oder tun nur so. Wieder werden während dieser kurzen halben Stunde Disputs die grundverschiedenen Wahrnehmungsmuster erkennbar, die ungeheure Kluft der Interpretationen von Wirklichkeiten, die Verweigerung eigener Verantwortung an dem Konflikt.
    Doch die Pointe kommt zum Schluß, und sie verschreckt mich am meisten.
    »Aber gute Katholiken gibt es auch«, sagt die Wortführerin, offensichtlich bemüht, das Gespräch versöhnlicher enden zu lassen, »alle, die ich kenne, sind gute Katholiken, ausnahmslos.«
    Was eine der anderen bestätigt mit den Worten: »Da ist auch kein einziger unter ihnen, dem ich böse wäre, kein einziger«, ein Satz, den die Dritte kopfnickend erhärtet. Feinde sind also alle, die man nicht kennt.
    Natürlich bin ich weder der Lehrer dieser drei Nordirinnen noch ihr Richter. Und doch wird mir ganz seltsam zumute bei den Assoziationen, die sich sofort und unweigerlich bei mir einstellen: gute Juden, schlechte Juden; schlechte Deutsche, gute Deutsche, eingeteilt danach, ob sie einem bekannt sind oder nicht. Genau das will mir den Atem nehmen an diesem herrlichen Sommertag im Glenariff Forest Park, obwohl ich weiß, daß die Vergleiche zwischen Drittem Reich und der Geschichte Ulsters hinken, weil die jeweiligen Voraussetzungen, Gründe und Verläufe gänzlich verschiedene waren und sind.
    Aber eines ist daran eben doch gleich: die Anonymität der Feindschaft und ihr Sortierungsmechanismus. Wie viele Jahre nach 1933 hatte ich geglaubt, daß alle Deutschen, die ich nicht kannte, also ihre überwältigende Mehrheit, schlechte Deutsche waren, während die einzigen guten Deutschen sich ausschließlich unter denen befanden, die ich kannte?
    Es fällt mir schwer, den Motor anzuwerfen und nach Belfast zurückzufahren, sehr schwer.
     
    An dieser Stelle der

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