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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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also auch viele Katholiken, sind gegen jede Vereinigung mit der Republik, wie immer die aussehen würde. Weil auch sie fürchten, daß der Lebensstandard dann sinken würde. Ich gehe noch weiter und sage, selbst im Fall einer katholischen Mehrheit hätte eine Vereinigung der beiden Staaten keine Chance, aus eben diesem Grund. Sie ist aus ökonomischen Gründen nicht denkbar.«
    Schweigen. Keine Frage, daß die Leute an der Bar zugehört haben, aber sie mischen sich nicht ein, obschon ihnen das Interesse an den Gesichtern abzulesen ist.
    »Und was wird mit diesem Land?«
    »Ich dürfte es eigentlich nicht sein, aber ich bin da eher pessimistisch. Die Zerstörungen, auch die inneren, sind weit fortgeschritten. Die Besten verlassen das Land, so mittelmäßig, so ohne Visionen, wie es ist, aufgespalten nicht nur in die beiden konfessionellen Großgruppen, sondern auch noch in Vereine, Komitees, Organisationen - sektiererhaft. Wir sind eine unglaublich konservative Gesellschaft. Die Sicht ist eng, das Selbstwertgefühl gering. Ich überlege mir ebenfalls, ob ich bleibe. Wir sollten eigentlich nicht weg, aber das Land vertreibt uns.«
    Er schaut zur Uhr, wir gehen die Treppe hinab ins Foyer.
    »Ich habe den Eindruck, die Menschen haben sich schon an die Entspannung gewöhnt. Könnten Sie sich noch vorstellen, daß die Waffenruhe gebrochen wird?«
    »Nein, eigentlich nicht, bei allem Pessimismus - das nicht. Denn wen sie auch fragen: Alle wollen friedlich Zusammenleben, diese normalen Menschen, und das ist ganz ehrlich gemeint, nach den fürchterlichen 25 Jahren der troubles. Es stimmt, noch nie war die Hoffnung, daß die Gewalt für immer ausbleiben könnte, so groß, so stark wie heute. Dennoch bin ich skeptisch, und ich sage Ihnen auch, weshalb. Sollte die eine Seite der anderen wieder Gewalt antun oder umgekehrt, dann spalten sich diese ordinary people sofort wieder in Parteien auf. Von der Gewaltentwöhnung ist Irland noch weit entfernt. Und darin besteht die Gefahr bei einem erneuten Gewaltausbruch.«
    Wir treten vor die Tür des Hotel »Europe«. An der Ampel auf der Great Victoria Street stehen junge Männer, Oberklassen-schüler, balgen sich, warten ungeduldig, trippeln hin und her, sausen dann über den Fahrweg.
    »Haben Sie noch fünf Minuten Zeit?« frage ich Stephen C. Als er nickt, führe ich ihn durch die Nebenstraße hinter dem Hotel so weit, bis der Scheiterhaufen für das bonfire auf dem großen Platz in der Sandy Row sichtbar wird, jetzt hochaufgeschichtet, sich nach oben verjüngend und auf der Spitze die Flagge der katholischen Republik Irland.
    »Wäre es nicht besser, wenn in diesemjahr auf das große Feuer vom 11. auf den 12. Juli, auf die Märsche des Orange-Ordens, auf das ganze protestantische Triumphgehabe anläßlich der Schlacht am Boyne verzichtet werden würde?«
    Stephen C., Sekretär der Ulster Unionist Party, wartet einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagt er, überlegt: »Wenn es nach mir persönlich ginge, würde darauf verzichtet werden. 1690 - wie weit das zurückliegt! Ja, es wäre besser, angesichts der Entspannung, die eingetreten ist, viel besser. Was da vorbereitet wird, diese Feuer über ganz Nordirland, diese Märsche des Orange-Ordens, das kann jetzt nur provozieren. Nur versuchen Sie mal, das aufzuhalten. Daran würde heute noch jeder scheitern. Hier wird ganz einfach eine häßliche Seite unserer Kultur sichtbar, mit der ich nicht einverstanden bin. Aber sagen Sie selbst: Sind nur wir so? Wann und wo auf der Welt hätte sich jemals die Vernunft dauerhaft durchgesetzt? Im übrigen: Es ist Ihnen doch klar, daß Sie von einem anderen Unionisten ein ganz anderes Interview bekommen hätten?«
     

Der Fall des Lee Clegg
     
    In der folgenden Nacht ist an Schlaf nicht zu denken.
    Von zwei Uhr früh an heulten Polizeisirenen durch die Stadt, wird Unruhe spürbar, Lärm, Bewegung. Am Morgen dann im Fernsehen die Bilder: schwere Ausschreitungen in Nordbelfast, Hunderte von Autos in Flammen aufgegangen, die Polizisten mit Benzinbomben angegriffen, die Löscharbeiten der Feuerwehr behindert - auf dem Schirm lodernde, raucherfüllte Szenen wie aus verflossenen Zeiten.
    Ein Offizier der Royal Ulster Constabulary beschuldigt Sinn Fein, die Gewalt organisiert zu haben, woraufhin Gerry Adams erscheint und erklärt: Nicht seine Partei sei an den Unruhen schuld, sondern die vorzeitige Entlassung des Mädchenmörders Lee Clegg aus der Gefängnishaft.
    Damit ist ein Name gefallen, der schon

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