Mein irisches Tagebuch
Niederschrift des Buches erreicht mich die unfaßbare Nachricht, daß gestern, am 19. Februar 1996, in einem Londoner Doppeldeckerbus wieder eine Bombe hochgegangen ist, die dritte, nachdem eine zweite vier Tage zuvor in einer Telefonzelle der Shaftesbury Avenue noch rechtzeitig entschärft werden konnte.
Die Bilanz der dritten Bombe: ein Toter, neun zum Teil Schwerverletzte, Passanten und Fahrgäste. Der Tatort, eine Straße im Stadtteil Aldwych am Rand des Theater- und Vergnügungsviertels, war voller Blutlachen.
Der Tote scheint der Attentäter selbst zu sein, woraus die Polizei den Schluß zieht, daß die Bombe auf dem Transport zu ihrer eigentlichen Plazierung vorzeitig explodiert ist. Und abermals das alte Schauspiel: Die Täter, die IRA, bekennen sich zu ihrer »Verantwortung«...
So wie seit Jahren, steigt auch diesmal wieder in mir jene ungeheure Wut auf, die mich immer noch gepackt hat, wenn in Zusammenhang mit solchen mörderischen Anschlägen der Begriff Verantwortung bemüht wird, während in Wahrheit doch nichts als die Verantwortungslosigkeit derer im Spiele ist, die vor allem den eigenen kostbaren Leib aus der Gefährdungszone zu bringen trachten. Diesmal ist einer, dem das Leben anderer nichts galt, selbst umgekommen.
Noch einmal: Bei aller Sympathiefür die Sache der katholischen Minderheit Nordirlands, ich lasse mich nicht ein auf die Scheinargumente, mit denen sich auch die IRA, gleich den Bombenlegem aller politischen couleurs und Breitengraden, selbst rechtfertigen, exkulpieren undabsolu-tieren möchte. Nein und abermals nein!
Welche Folgen wird der Anschlag für die Friedensverhandlungen haben? Wieviel bricht jetzt weg von den FLoffnungen und der Zuversicht, die so viele Menschen haben? Werden die protestantischen Ultras nachziehen? Und die britische Regierung, die den Anschlag heute verdammt hat und so tut, als wenn sie an der Immobilität des Friedensprozesses keinerlei Anteil hätte, wird sie sich nun endlich bewegen? Und warum hat sie es nicht längst getan? War das Unheil nicht schon weit vorher sichtbar geworden, seine Kompression nicht für jedermann zu spüren, nachdem immer wieder die einseitige Entwaffnung der IRA gefordert, die Allpartei-engespräche verweigert und die Freilassung der politischen Gefangenen oder die Reduzierung ihrer Strafen wie eine zu vernachlässigende Größe behandelt wurden? Habe ich das, was auf die Katastrophe zulief, etwa nicht selbst erlebt, sondern nur geträumt?
Mein irisches Tagebuch IX
10. Juli.
Portadown, zwanzig Kilometer südöstlich von Belfast, scheint zum Zentrum der Unruhen zu werden.
Dort wollen tausend Orange-Leute die »alte Route«, das heißt entlang der Garvaghy Road, marschieren, und die liegt im katholischen Stadtteil Ballyora Park. Um das zu verhindern, ist es zu einer überraschenden Konfrontation gekommen - zwischen dem Orange-Orden und der RUC: tausend Polizisten haben den Zugang zur Garvaghy Road gesperrt. Die Bilder im Fernsehen und in den Zeitungen sind eine Sensation: Unmittelbar vor dem 12. Juli stehen sich Protestanten und Protestanten gegenüber, aber nicht in Übereinstimmung, sondern kontrovers. Es muß eine Anordnung von ganz oben sein, vom britischen Staatssekretär für Nordirland, denn was da geschieht, ist zu schwerwiegend, als daß es von einer niedrigeren Stelle kommen könnte. Wird durch sie doch eine Strecke verboten, die der lokale Orange-Orden aus Anlaß des Gedenkens an die Schlacht am Boy ne River 1690 seit 180 Jahren marschiert ist.
Die Empörung ist ungeheuer. Steine sind geflogen, es hat Verletzte gegeben, und die Drumcree Church, wie jedes Jahr in Por-tadown Ausgangspunkt des Orange-Marsches, besetzt und zum Widerstandsnest gegen die eigenen Sicherheitsorgane umfunktioniert, gleicht auf Fernsehbildern und Pressefotos einem Heerlager. Die Loyalisten wollen dort so lange ausharren, wenn nötig auch über den 12. Juli hinaus, bis sie die gewohnte Route marschieren dürfen.
Als ich in Portadown-Ballyoran eintreffe, bietet sich mir ein dramatischer Anblick.
Die Drumcree Church liegt etwas außerhalb der Stadt, und davor sieht es wirklich kriegerisch aus. Die Straße, die von der Kirche an den Rand von Portadown und von dort zur Garvaghy Road fuhrt, also der Anfang der Marschroute, ist in 300 Metern Entfernung durch vier Polizeiwagen abgesperrt. Hinter ihnen zieht sich eine endlose Kette gepanzerter Fahrzeuge bis an den Rand von Ballyoran, um zu verhindern, daß die Marschwilligen über ein
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