Mein irisches Tagebuch
seit einigen Tagen öffentlich vor sich hinschwelt.
Private Lee Clegg (ein private ist einfacher Soldat) hatte am 30. September 1990 in Belfast als Angehöriger einer Patrouille von sechzehn Mann 36 Schüsse abgegeben auf einen Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit auf ihren Kontrollpunkt zugerast kam. Dabei wurde Karen Reilly, katholisch, 18, getötet. Als Todesschütze wurde Lee Clegg ermittelt und daraufhin 1991 in Untersuchungshaft genommen.
Der Prozeß ergab, daß die erschossene Beifahrerin einer Gruppe von sogenannten joy riders war. Das sind Jugendliche, die in meist gestohlenen Wagen gegen alle Verkehrsregeln in rasendem Tempo durch die Straßen fegen und damit ein Lebensgefühl aus-drücken wollen, das sich gegen die Normen eines ereignislosen und sozial depressiven Alltags auflehnt. Dabei hatte es während der letzten Jahre in Belfast und anderen Städten und Ortschaften Nordirlands viele Unfalltote und -verletzte gegeben.
Nach achtwöchiger Verhandlung war Lee Clegg zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden. Was im Fall eines Angehörigen der britischen Armee, wie sich nun herausstellt, nicht mehr als vier Jahre zu bedeuten braucht - in diesem Falle zwei Jahre Untersuchungshaft, zwei Jahre Strafhaft. Gewöhnlich erfolgt im britischen Strafrecht bei lebenslänglich frühestens nach zehn Jahren ein Gnadenerlaß.
Schon im Vorfeld der Entlassung Lee Cleggs und in ihrer sicheren Erwartung hatte die republikanische Presse auf die gegenteilige Behandlungsweise von IRA-Gefangenen in britischen Gefängnissen hingewiesen. Nicht einer der aus ihren Reihen zu lebenslanger Haftstrafe Verurteilten ist je entlassen worden, geschweige denn vorzeitig. Derzeit sind zehn republikanische Gefangene mit einem Urteil von mehr als zwanzig Jahren ohne Entlassungsdatum. Gleichzeitig dringen unde-mentiert Meldungen an die Öffentlichkeit, daß sich die Bestimmungen für die Behandlung von IRA-Gefangenen in britischen Vollzugsanstalten drastisch verschärfen, vor allem hinsichtlich der Besuchserlaubnis.
Karen Reilly war das älteste von vier Kindern.
Der Vater, der dem Prozeß jeden Tag beigewohnt hatte, schildert die Tochter als eine »sprudelnde Person«, die, wo immer sie auftauchte, überall Aufsehen erregte. »Sie besaß keinen Führerschein, stimmt, aber hatte sie dafür die Todesstrafe verdient, zumal sie gar nicht am Steuer saß?«
Als er die Tote identifizieren sollte, hatte er sie zunächst nicht erkannt. »Meine Tochter war blond, aber diese Tote hatte rote Haare.« Bis er merkte, daß die Farbe von ihrem Blut stammte.
300 junge Leute waren dem Sarg bis zum Grab gefolgt. Seither hatte der Vater es jeden Tag besucht.Jetzt entnehme ich der Zeitung, daß er heute nicht dort hingehen wird: »Ich kann meiner Tochter nicht sagen, daß ihr Mörder frei ist, und daß ihr Leben also nichts bedeutet. Wenn du katholisch und aus Westbelfast bist, und wenn du dann auch noch zur Arbeiterklasse gehörst, wirst du behandelt wie Dreck. Wenn meine Tochter Lee Clegg getötet hätte, dann wäre sie in das Frauengefängnis Maghaberry eingesperrt und der Schlüssel ihrer Zelle weggeworfen worden. Denn es gibt ein Gesetz für sie und ein anderes für den Rest von uns.«
Dennoch gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, daß der Friedensprozeß nicht beschädigt und die Waffenruhe andauern wird.
Paratrooper Lee Clegg verkündet auf einem Zeitungsfoto strahlend, daß er zur Armee zurückgehen werde.
In Belfast hält der Aufruhr den ganzen Tag an. Falls Road und Springfield Road sind blockiert, die Polizisten der RUC bieten in ihrem vollen Kampfdress (riotgear und flak jacket) einen bedrohlichen Anblick.
Was mich erschreckt, sind die grundlegend verschiedenen Wahrnehmungsmuster, mit denen ein und dasselbe Geschehen von beiden Seiten beurteilt wird, die gänzlich unterschiedliche Einschätzung und Bewertung der Realität vom jeweiligen Standpunkt aus. Das bestätigt sich wieder bei der Interpretation der akuten Unruhen und Zusammenstöße. Die unionistische Presse erklärt sie als organisierte Kampfansage von IRA und Sinn Fein, spricht davon, daß da nach wie vor die gleiche »schießwütige, brandstifterische, polizeifeindliche und wirtschaftszerstörende Mentalität« waltet, während die katholische Seite und ihre Presse die riots in ursächlichen Zusammenhang bringt mit der spontanen Empörung über die vorzeitige Entlassung des zu lebenslanger Haft verurteilten private Lee Clegg.
Gleiche Ereignisse werden also polar entgegengesetzt
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