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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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eine Atmosphäre wohltuender Unbefangenheit. Sie hält an, als viele nach dem Ende der Predigt in der warmen Kirche bleiben, Freunde wiederfinden, Bekannte begrüßen. Manche Besucher müssen von weit her gekommen sein.
    In einer Stunde, um zwei Uhr, soll in Cahirciveen der langvorbereitete Umzug zu Ehren von St. Patrick beginnen, wie heute überall in der Republik Irland und dem katholischen Teil von Ulster.
    Ursprünglich wollte ich St. Patrick’s Day in Dublin erleben, wollte gestern dort hingefahren und tagsüber geblieben sein, unterließ es dann aber doch, begierig auf eine Momentaufnahme, auf ein Blitzlicht gerade hier, in der Provinz, in Cahirciveen.
     
    Der Umzug, auch parade genannt, der um zwei Uhr beginnen sollte, läßt sich Zeit, der Zeiger ist schon eine halbe Stunde weiter gerückt. Doch scheint das hier niemanden auch nur im geringsten zu stören - ein Greenhorn, wer in Irland Pünktlichkeit erwartet. Außerdem geht es links und rechts der Hauptstraße bereits bunt zu. Kostümierte Kinder und Erwachsene mit blauroten Mützen haben sich eingefunden, und die Gehsteige sind gesäumt von Männern und Frauen, denen keinerlei Anzeichen von Unruhe oder Langeweile anzumerken ist.
    Und da, gut einstündig verspätet, rollt der erste Wagen heran, ein Laster mit Strohballen auf der Ladefläche und Sattelzeug, dahinter Reiter, Mädchen und Jungen, und ganz am Schluß auf seinem struppigen Pferd der Kleine, der mir vorhin schon aufgefallen war. Stimmengewirr, Musik, Winken.
    Vom Himmel fallen Hagelkörner, es ist kalt, gegen null Grad. Leider habe ich niemanden, den ich nach dem Sinn oder Unsinn der jeweiligen Erscheinung fragen könnte, finde aber großes Gefallen daran, sie gerade kenntnislos zu schildern oder zu raten, um was es sich dreht.
    Die Uniformierten der örtlichen Polizei, darunter auch weibliche, mit Kordeln und manche ohne Jackett, nur im weißen Hemd, machen die Frage nach Zuordnung leicht.
    Die in Schwesternkleidung gewandeten Frauen gehören zweifellos zum Pflegepersonal des hiesigen Hospitals, wohingegen ich keine Ahnung habe, woher die Mädchenschar kommt, die in kurzen Röckchen und roten Umhängen unter Flötenmusik vorbeidefiliert, gefolgt von einer Schar wild bemalter Jugendlicher in Clownsanzügen. Bei einem Zug lachend vor sich hergestoßener Kinderwagen tippe ich auf die Zunft der Hebammen, was schließlich durch schwingende Bewegungen ineinander verschränkter Arme bestätigt wird.
    Vom Straßenrand Lachen, Scherze, Begrüßungen.
    Dann kommt - warum nicht schon ganz vorn? - St. Patrick, ein Hüne von Kerl, auf dem Kopf eine Tiara aus Papier (nach der er dauernd greifen muß, damit sie ihm nicht wegweht), in der einen Hand den Krummstab, mit der anderen eine Schlange würgend und im Gesicht das breiteste Grinsen, das ich je gesehen habe.
    Jetzt scheint die Sonne, aber der Wind pfeift noch stärker durch die enge Hauptstraße von Cahirciveen.
    Das macht es der Portmagee Community Band schwer, ihr Transparent zu halten. Es ist an Metallstangen befestigt, die mit bloßen Händen emporgereckt werden, während der Sturm mächtig an dem gestickten Namenszug zaust. Die Träger müssen verdammt kalte Finger haben, wie die Musiker, die dessen ungeachtet schmetternd ihre Instrumente bedienen.
    Ich verschwinde feige und bibbernd in der Telefonzelle vor der Ortsbibliothek.
    Von dort beobachte ich voller Mitgefühl eine Mädchenschar, als Angehörige der Portmagee Play School ausgewiesene Schülerinnen, die gerade in weißen Hemdchen und Miniminiröckchen mit Trommeln und Harmonikas vorbeiziehen, und deren Unempfindlichkeit gegenüber den Außentemperaturen mich zugegebenermaßen stark irritiert.
    Die gleiche Empfindung habe ich bei einer Männergruppe, die zu den Klängen des River-Kwai-Marsches vorbeizieht, nackte Brust und in den Händen Fähnchen mit den irischen Farben.
    Ihr Beispiel ist es, das mich aus der Telefonzelle heraustreibt. Inzwischen regnet es.
    Da rückt ein besonders auffälliger Abschnitt des Umzugs heran. Ein offener Wagen, auf dessen Plattform Männer und Frauen tanzen, singen, Flaschen hochhalten und dabei einen als Esel verkleideten Menschen unter Jubel fortwährend in den Hintern treten. Und das mit Stößen, die meiner Meinung nach zum Exzeß ausarten, was aber offensichtlich weder von dem Getretenen noch den Tretenden so gesehen wird. Dazu wird gegeigt, getanzt und gewitzelt, ohne daß der mißhandelte Mittelpunkt aus den Augen gelassen wird.
    Ich grüble. Der äußeren

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