Mein irisches Tagebuch
den Gefährten wo und wann geschnarcht hat, und natürlich auch, wann und wo gesoffen worden ist, mit Datum und Verlauf - jeder Anlaß schien dafür willkommen. O’Crohan schreibt: »Wir nahmen eine reichliche Mahlzeit ein«, um ein halbes Jahrhundert später glaubwürdig aufzuzählen, woraus sie bestanden hat.
Die Lieder seiner Jugend und ihre Titel sind dem Greis so geläufig, als hätte er sie gestern zuletzt gesungen: »Der sanfte Berg der dunklen Frau«, »Eine glatte Planke« oder «Um Irlands willen nenne ich ihren Namen nicht«.
Die Frau, die O’Crohan heiratete, gebar zehn Kinder. Eines stürzte sich mit sieben Jahren von den Klippen der Großen Blasket zu Tode, ein anderes starb an Masern, ein drittes ertrank. Das wird berichtet, ohne daß der innere Kreis der Trauer zum Vorschein kommt. Schicksal wird beklagt, aber angenommen, wie eine Übermacht, gegen die anzukämpfen sinnlos wäre.
Auf den Blaskets gab es keine Läden oder Handwerker, alle Selbstverständlichkeiten der Zivilisation fehlten, so daß sich das Leben nicht wesentlich von dem der Vorfahren unterschied. Wie für sie, stand es ganz unter dem Gesetz der See und der Armut. Und dennoch konnte nichts diesen Fischern und Bauern je die Lebensfreude trüben, nichts ihre angeborene Fröhlichkeit einschränken, ihre Bereitschaft, zu feiern, zu lachen, zu arbeiten.
O’Crohans Schilderungen von Nachbarn und Zeitgenossen sind plastisch, kritisch, liebevoll. Sing- und raufbereit sind diese Männer, große Säufer vor dem Herrn, manche nur noch mit einem Rest von Blut im Alkohol ihres Kreislaufs, aber stets zur Stelle, wenn es gilt, anzupacken und zu helfen. Darunter Onkel Diarmid, dürr, ständig umnebelt und immer in Sorge um den Neffen. Als der einmal in Dingle mit einem Seil einem Schwein nachsprang, das in begründeter Vorahnung seines Schicksals ins Hafenbecken abtauchen wollte, schrie der Onkel ihm nach: »Binde dich nicht an das Schwein, sonst zieht es dich nach unten!« Das Schwein blieb am Leben und der Ausruf des besorgten Onkels dem Retter noch sechs Dezennien später im Ohr.
Mit meist schmucklosen und gerade deshalb eindrucksvollen Worten wird der unbewußte Heroismus eines Daseins geschildert, in dem Politik so gut wie keine Rolle spielte, der Platz der Kirche und des Glaubens aber unangefochten war (wie heute noch in großen Teilen der ländlichen Bevölkerung vor allem Südwest- und Westirlands). Ausrufe wie »Bei der Heiligen Jungfrau« oder »In Gottes Namen« gehörten zur ständigen Rhetorik.
Das Kirchspiel der Blasket-Bewohnerwarin Dunquin auf der Halbinsel Dingle (die Tomas O’Crohan nur unter dem gälischen Namen Corcaguiney kannte), die Existenz der Blasket-Bewoh-ner in hohem Maße autonom, ihr mobiler Radius begrenzt -über Tralee ist keiner von ihnen hinausgekommen.
Eine neue Tradition hat Tomas O’Crohan nicht eröffnet. Er tritt auf als letzter irischer Vertreter mündlicher Überlieferungen, deren Dichter und Märchenerzähler aus dem Dunkel des vorchristlichen Keltentums kommen. Sein Gälisch soll einfach und klar gewesen sein, sein Gedächtnis bis zuletzt ungetrübt.
Robin Flower, der englische Übersetzer, ist voller Sympathie für ihn und rühmt seine Fähigkeiten und seinen Charakter.
In einem Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt Flower: »Er war ein kleiner, lebhafter Mann mit einem scharfgeschnittenen, intelligenten Gesicht, das von der Sonne, Regen und Salzgischt gegerbt war; helle kluge Augen blickten aus diesem Gesicht aufmerksam und kritisch in die Welt.« Und an einer anderen Stelle: »Wir lagen im Windschatten eines Torfstapels oder saßen bei ihm zu Hause. Unermüdlich schöpfte er aus seinem Vorrat von Geschichten, sagte Gedichte auf und Sprichwörter, gab lebhafte Kommentare, erklärte schwierige Wörter genau, streute Erinnerungen aus seinem Leben ein und aus der Vergangenheit der Insel. Hätte ich das Erlebnis je vergessen können, so hätte die Lektüre dieses Buches, das ein so lebhaftes Bild des Mannes vermittelt, es wieder lebendig gemacht.«
Ich habe den »Bericht eines irischen Fischers«, wie der Untertitel der deutschen Ausgabe lautet, mit ähnlicher Bewegung gelesen, voller Bewunderung für einen Menschen, der kein Schriftsteller war und nie einer sein wollte und der dennoch so wundervoll poetische Sätze fand wie diese: »Wir sagten Lebewohl und riefen denen, die an diesem lieblichen Sonntagabend am Kai standen, Segenswünsche zu. Wir wandten das Heck dem Land zu und den Bug auf See
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