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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Stammladen.
    Jetzt steht sie auf, nach einer guten Stunde, tritt vor die kleine Treppe, die zur Veranda führt, schaut auf den Atlantik hinaus, der heute morgen friedlich daliegt, schürt das Feuer im Kamin noch einmal und verabschiedet sich: »Morgen bin ich dabei.«
    Draußen greift sie zu ihrem Stock, keucht die Rampe hoch und winkt vom Tor zurück.
     
    Maureen will zur Gestaltung des Buches beitragen, das ist ihre erklärte Absicht, und so fahre ich mit ihr über Portmagee nach Knight’s Town auf Valentia Island. Dort ist eine alte Frau gestorben, die Maureen nicht persönlich kannte, wohl aber ihre Verwandten. Das genügt, um der Toten die letzte Ehre zu geben -»so gehen Iren miteinander um«, sagt sie.
    Wir halten vor einem pinkfarben angestrichenen einstöckigen Haus, davor eine Menschenmenge. Maureen, von allen gegrüßt, geht hinein, ich in dem engen Flur hinterher. An den Wänden, stehend, Männer und Frauen, dann ein Zimmer, die Angehörigen rechts auf einem Sofa, links die aufgebahrte Tote -eine kleine, zarte Frau, das Gesicht im Kerzenlicht wächsern. Den Angehörigen wird die Hand gegeben, danach vor die Tote getreten.
    Beim Hinausgehen bekreuzigt Maureen sich.
    Das alles geht mit großem Ernst vor sich, ohne aufgesetzte Trauermienen - Freundlichkeit, manchmal leises Gemurmel, meist Schweigen.
    Eine halbe Stunde nach dem letzten Besucher wird die Tote eingesargt und in die Kirche zur morgigen Trauerfeier gebracht.
    Wieder im Wagen, sagt Maureen: »Ich will dir noch etwas zeigen.« Sie dirigiert mich aus Knight’s Town heraus auf eine Straße hoch über der See, bis tief unten der Leuchtturm auf Beginish Island sichtbar wird. Und dann halte ich vor einer verblüffenden Kulisse: eine gewaltige Höhle, ein aufgerissenes Felsenmaul, darüber eine ungeheure Wand - La Grotta, ein längst stillgelegter Steinbruch!
    »Slate quarry« lese ich auf einer Tafel. Hier wurde Schiefer gebrochen, von 1816 bis 1911.
    Bis ins Mark bedrohlich ist dieser Schlund, schwarz in der Abenddämmerung, von durchdringender Feuchtigkeit - überall Wasser, an den Wänden und von der Decke herab. Irgendwo versteckt, kreischen Vögel, und da oben, man will es nicht glauben, noch einmal übertürmt von einer gewaltigen Felsformation - die Muttergottes, Maria mit dem Kind, klein, blauweiß und sehr hoch.
    Es beginnt zu dunkeln, man kann kaum noch etwas sehen.
    »Ich will da nicht hinein«, sagt Maureen, »ich wollte es dir nur zeigen.«
     
    Am nächsten Tag bin ich wieder da, bei vollem Licht, ganz allein und jenseits von Eden.
    Es kann nicht wahr sein, was ich da vor mir sehe, diese Höhle, dieses Loch, dieses dreieckige Naturmaul, das sich gefräßig öffnet, als warte es immer noch auf die Hunderte von Männern, Frauen und Kindern, die hier fast ein Jahrhundert geschuftet haben, zwölf pence für den vierzehnstündigen Arbeitstag mit zwei kurzen Pausen, brüllenden Aufsehern, primitiven Werkzeugen - die Apokalypse.
    Ich gehe tastend hinein und bin sofort gruftig durchnäßt.
    Von oben, von da, wo die blauweiße Mariafigur steht, kommt ein schmaler, scharfer Wasserstrahl herab, fällt in die Mitte einer eingefaßten Fläche, zersprüht in tausend Tropfen. Je weiter es in den Bruch hineingeht, desto niedriger wird die Decke der Höhle.
    »Das war Sklavenarbeit«, hatte Maureen gestern beim Wegfahren gesagt, »richtige Sklavenarbeit, nur mit Muskelkraft haben sie die Steine herausgehauen.«
    Spartacus läßt grüßen.
    Hier, in La Grotta auf Valentia Island, wurde der Stein gebrochen für das Dach der Pariser Oper, für das House of Commons und das House of Lords in London, also für das Unterhaus und das Oberhaus. Von hier kamen die Platten für die Bahnhöfe von Charing Cross und Waterloo Station.
    Aus Steinen dieses Bruchs wurden Billard- und Snookertische gefertigt, Kapitelle, Sonnenuhren, Altäre und Hausdächer.
    Vor der Höhle liegen zyklopische Blöcke, Relikte der Steinbrucharbeit, jeder einzelne viele Tonnen schwer. Drinnen an den Wänden sind noch deutlich die Spuren menschlicher Arbeit zu erkennen.
    Ich stehe mitten in der Höhle und habe das Gefühl, als müßte ihr Dach samt der Muttergottes herabstürzen und alles unter sich begraben. Schwindelig wird einem, wenn man hochschaut.
    Unerschöpflich trieft es von oben herab aus verborgenen Löchern. Was für eine Stätte, was für eine Arbeit. Hier war es immer kalt und feucht, auch im Sommer, immer war La Grotta eine Hölle, ein Ort des Grauens und der Schande, ein

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