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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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lauthals gratuliert und gescherzt wird: »Mann, Nachbar, das trifft sich ja gut! Ich bin gerade ein bißchen klamm - kannste mir mal ’n Fünfer leihen?«
    Die MacMahons hatten den zweitgrößten Jackpot in der irischen Lottogeschichte geknackt. Der größte lag um einige 100 000 Pfund höher. Daß sie ganz Kinder unserer Zeit sind, wird daran erkenntlich, daß Noel MacMahon auf die Frage, ob er sich nun einen langgehegten Wunsch erfüllen werde, wie aus der Pistole geschossen antwortete: »Ja - einen Mercedes.«
    Es gibt in Irland also keinerlei Scheu der Spitzengewinner, ihr Glück zu publizieren, sich darüber interviewen zu lassen oder im Fernsehen aufzutreten und der Öffentlichkeit mitzuteilen, welche Pläne man mit dem Riesenbatzen Geld hat. Furcht vor Belästigungen, Bittstellern oder gar Erpressern scheint unbekannt zu sein.
    Das dürfte bemerkenswerte Rückschlüsse auf den Volkscharakter zulassen.
    Hier soll nicht idealisiert werden. Skeptische Stimmen sprechen sicher mit Recht vom wachsenden Materialismus einer sich rasch entwickelnden Erwerbsgesellschaft bei gleichzeitig unterentwickeltem Ökologiebewußtsein; davon, daß isolationistische Effekte der elektronischen Medien, allen voran des Fernsehens, dabei sind, das Geflecht traditioneller Sozialbeziehungen aufzuweichen; daß die mangelnde Streitkultur und das starke Harmoniebedürfnis eine kulturelle Ungebrochenheit Vortäuschen können, tatsächlich jedoch Problemen und deren Lösungsversuchen gern ausweichen. Und schließlich, daß die Freundlichkeit, die so bestrickend ist für Fremde, einen immer unverbindlicheren Charakter bekommt.
    Es bleibt da eine bange Frage, der ich mir nur allzu bewußt bin, nämlich ob trotz des Anschlusses Irlands an eine durch Kommunikation klein gewordene Welt Eigenschaften bewahrt bleiben, die für die irische Identität charakteristisch sind, oder ob diese Identität im Zeitalter kontinentaler und interkontinentaler Nivellierungen durch die Benutzung globaler Techniken nicht V1 el gefährdeter sein wird, als sie es in der Ära langer kolonialähnlicher Unterdrückung einst war.
    Gedanken bei der Rückreise von Cork. Späte Ankunft.
     

Spartacus läßt grüßen
     
    Am Morgen, Punkt neun Uhr, klopft es an der Haustür, dann das vertraute »Good morning, my dear«, und Maureen tritt ein, ohne Stock und offensichtlich erfreut, daß ich wohlbehalten zurück bin.
    Sie hat Torf mitgebracht, Anzünder, Streichhölzer und lädt die Last am Kamin ab. Sie knüllt Zeitungen zusammen, richtet die braunen, stark riechenden Brocken zeltartig gegeneinander, setzt das Papier in Brand und öffnet die Oberklappe. Sofort schlägt die Flamme hell auf, lodert weißlich und hechelt röhrend hoch in den Kaminschlund. Dann setzt Maureen sich an den Tisch in der Eßdiele, holt Gebäck heraus - »home made!« -, selbstgemachte, kleine, sehr feste Rosinenbrötchen, und läßt sich Tee einschenken. Sie trinkt einen Schluck, schaut mich erwartungsvoll an, und ich beginne zu erzählen.
    Diesmal von Cork.
    Wir vollziehen ein inzwischen eingespieltes Ritual - nach jeder Rückkehr von einer Reise berichte ich Maureen, wo ich war und was ich gesehen habe.
    Dann sitzt sie vor mir, nach vorn gebeugt, ganz Ohr, und hört von Landschaften, Regionen, Flüssen und Städten ihres Landes, die sie nie gesehen hat. Das stellt hohe Anforderungen an mein Taktgefühl, denn ich will in ihrem runzeligen Gesicht hinter der Neugierde eine Mischung aus Stolz und Scham entdeckt haben.
    Stolz, weil es mir offenbar gelingt, die Schönheiten ihres Heimatlandes vor ihren inneren Augen erstehen zu lassen, Scham, weil es in unseren mobilen Zeiten etwas lächerlich wirken könnte, wenn man so wenig herumgekommen ist wie sie und der Begriff Heimat ganz beschränkt ist auf den kleinen Daseinsradius.
    Es kann jedoch nichts schiefgehen, da ich weiß, in welch völliger Übereinstimmung Maureens Immobilität mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Gewohnheiten lebt, was ich an den passenden Stellen einzufügen pflege.
    Sie hört jedoch nicht nur zu, sondern unterbricht mich mit Fragen, will wissen, welche Strecken ich gefahren bin und wie lange es von da nach dort gedauert hat - »von Cork bis Killarney?« oder »von Killarney bis Limerick?« Sie ist auf Städtisches erpicht, will wissen, ob es Sachen gibt, die in Cahirciveen nicht zu haben sind, erkundigt sich nach den Preisen von Lebensmitteln und vergleicht sie, wenn ich Auskunft geben kann, mit denen bei Curran’s, ihrem

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