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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Hinter Oldcastle wird meine Neugierde geweckt durch einen Hinweis: »Stone mounds, Passage graves type, Lough Crew« - ein vor 2500 Jahren errichtetes Megalithgrab. Daran komme ich nicht vorbei.
    Es wird vom Parkplatz aus ein langer Anmarsch. Immer hügelwärts an Pfählen entlang, pruste ich mit stetig wachsender Fernsicht bergauf. Heckenumstandene Grünflächen da unten, weißgesprenkelt von weidenden Schafen, Getreidefelder, oben ein irrlichterndes Wolkenband.
    Endlich auf dem höchsten Punkt der windumtosten mounds, bietet sich ein grandioser Anblick dar. Gräber mit großen Kammern und Nebenkammern; riesige Steinblöcke mit eingemeißelten Rillen, Rhomben, Rechtecken; abstrakte Figuren, Zeichen einer noch schriftlosen Zeit, was dem künstlerischen Empfinden jedoch keinen Abbruch tat. Seltsam, wie tief mich Gravuren berühren, obschon ihr Sinn und ihre Zeichen gänzlich unerforscht sind.
    Glaube muß auch hier im Spiel gewesen sein, eine geradezu überbordende seelische Kraft, die der Ort trotz seiner Verfallenheit immer noch ausströmt.
    Von hier oben fällt der Blick ungehindert in alle Richtungen wohl an die hundert Kilometer weit. Etwa auf einem Drittel des Radius nach Westen sehe ich den Lough Sheelin, eine der vielen wassergefüllten Gletscherdellen aus der Eiszeit, die heute, an einem strahlenden Sonnentag, aussieht, als wäre sie mit blauer Tinte gefüllt.
    Dann, auf der Rückfahrt, zwischen Oldcastle und Mount Nugent, reckt sich plötzlich rechts der Straße, hinter einem Gatter und plastisch abgehoben gegen den hellen Himmel, eine umwerfende Erscheinung hoch - ein Bulle. Nein, das Bild von einem Bullen.
    Wieder nein: sein Urbild!
    Wie ein antikes Monument steht er da in seiner ganzen unbewußten Schönheit, mit dem mächtigen Kopf und dem gewaltigen Hodensack ein Geschöpf von elementarer Stärke und demonstrativer Zeugungskraft. Auf dem breiten Topos seiner Stirn kräuselt sich lockenähnlicher, wie in Schleifen gelegter Flaum. Dann und wann, in wechselnden Abständen, grollt es dumpf aus ihm heraus, als müsse er auf sich aufmerksam machen, was sich nun in der Tat erübrigt, da sein Mythos auch ohne jede Akustik für sich selbst spricht. Selbst der künstlerischste Ausdruck des mediterranen Tauruskults, ja, die gelungenste Statue griechischer Meister könnte nicht vollkommener geformt sein als das erhabene Stiergebirge da vor mir auf dem erhöhten Feld.
    Ich nähere mich ihm, vorsichtig, spreche mit ihm, werbend, was das Tier um einen Gran zutraulicher macht, wie mir scheinen will, ohne daß es jedoch seine eherne Reserve verliert. Da naht auch schon der Besitzer des fleischgewordenen Wunders, ein kleiner, älterer Mann von ländlichem Habitus und hocherfreut über das Entzücken des Fremden: Ferdinand (Fördinänd!) sei der Name des Prachtstücks!
    Der »great guy«, so erfahre ich nun, stammt aus Frankreich, ist zwischen zwei und drei Jahre alt und ein äußerst gefährlicher Bursche (an utmost dangerous rascal). Denn Ferdinand hat nichts im Sinn, als Kühe zu bespringen. Offenbar meint er aber, jeder Mensch, der in seine Reichweite kommt, wollte ihn daran hindern. Man muß sich vor ihm schützen - »ich auch«, versichert der Ire mit drollig gespieltem Entsetzen.
    Aber gut, daß das Gatter dazwischen ist, denn der Anblick des Alten scheint Ferdinand in keiner Weise zu beruhigen, sondern eher gegenteilige Reaktionen hervorzurufen. Denn nun scharrt der Bulle erst recht mit den Hufen, wölbt die ungeheure Brust, versteift sich mit gespreizten Vorderbeinen in Angriffsposition und bietet damit nur noch einmal das großartige Schauspiel seiner animalischen Unverwechselbarkeit.
    Als ich den Alten nach der Entfernung bis Mount Nugent frage, sagt er: »Etwas mehr als vier Meilen«, korrigiert sich dann jedoch rasch: »Also ungefähr sieben Kilometer.«
    Irland hat seit langem auf metrisches Maß und Dezimalsystem umgestellt. Doch mache ich hier nicht zum erstenmal die Erfahrung, daß ältere Iren immer noch in den alten britischen Meß-, Gewichts- und Distanzkategorien denken, also in feet und inches, in libs, pounds und eben auch in miles.
    Als ich, nach kurzem Abschied, an der nächsten Biegung anhalte und zurückschaue, sehe ich, daß Fördinänd mir unbewegt nachstarrt.
    Das jedenfalls habe ich ihm abgerungen.
     

Paul und Susan
     
    Wieder in Mallard Point angekommen, finde ich seinen guten Geist gerade dabei, die bunten Rabatten an der Vorderseite des Hauses hingebungsvoll zu begießen. Keine schwere

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