Mein irisches Tagebuch
beängstigender Zahl. Es wimmelt von Menschen, weit über das übliche Maß einer Touristenmetropole hinaus. Und in der Tat - ein Rummelplatz mit Karussells, ohrenbetäubende Musik, Scooter, Kleinkinder an der Hand von Vätern, gefährliche Bewegungsmaschinen mit langen, starren Armen, an deren Enden in wirbelnden Körben schreiende Menschen herumgeschleudert werden, all das und mehr läßt keinen Zweifel - Carrick-on-Shannon wird heute von einem Volksfest heimgesucht.
Es ist halb vier Uhr nachmittags, und gerade schweben - von welcher Hand entlassen? - Hunderte von bunten Luftballons in die Höhe, während hier unten ein Vater, sein enttäuscht wimmerndes Kind auf dem Arm, einem entfliehenden Ballon von schrecklichem Rosa empört nachruft: »Come back, please, come back!«
Auf der Hauptstraße vor der Kirche turnt ein junger Mensch, mit roten Hosen und rotem Turban als Derwisch verkleidet, auf gut drei Meter hohen Stelzen einher, und er tut das so gewandt und beweglich, als stünde er mit seinen Füßen auf festem Boden. Mehr noch wird die öffentliche Aufmerksamkeit gefesselt von einem anderen jungen Mann, der eine lange Metallstange vor sich her schiebt, an deren unterem Ende ein kleines Rad und oben ein winziger Sattel befestigt ist. Mit weit ausholenden Gesten verschafft er sich für wenige Sekunden Ruhe, um der auf den Stufen der Kirche stehenden oder sitzenden Menge zuzurufen: »Lauft mir nicht weg, ich führe euch gleich etwas vor, was ihr noch nie in eurem Leben gesehen habt.«
Links davon, die Straße hinunter, noch in Störweite, bereiten sich auf einem hölzernen Podest zwei Musiker auf ihren Beitrag zum großen Tag von Carrick-on-Shannon vor, bedienen schon mal das Schlagzeug, pusten in die Trompete und bauen lachend und scherzend die ganze Fülle moderner Verstärker und Lautsprecherboxen auf.
Im Pub gegenüber - »Flynn’s Bar« - ist längst der Teufel los: ohrenbetäubende Musik, rhythmische Aufschreie, dazwischen die Stimme eines Sprechers. Mein Versuch, in die vollgepfropfte Szene einzudringen, scheitert zwar schon kurz hinterm Eingang, läßt mich aber immerhin erkennen, was die Ursache der kollektiven Hysterie ist: Es geht um ein Rugby-Spiel in Südafrika, und in diesem Rahmen wird gerade - live im Fernsehen übertragen! -der Kampf zwischen den Mannschaften Irlands und Wales’ ausgetragen!
Just in diesem Moment bricht ein Höllenlärm los - Fäuste fliegen in die Höhe, in der drangvollen Enge wird sich, so gut es geht, umarmt und mir mit Stentorstimme, als wenn es solcher Bestätigung überhaupt bedürfte, ins Ohr gebrüllt: »Das war unser Punkt, Mann, das war unser Punkt!«
Daraufhin wird die irische Nationalhymne angestimmt, Töne, die jedoch sehr bald abflauen, was meiner laienhaften Beobachtung nach damit Zusammenhängen muß, daß Wales den Gegner in eine äußerst kritische Situation gebracht hat. Die allerdings konnte, dem hörbaren Aufatmen der Menge in »Flynn’s Bar« nach, rasch geklärt werden.
Draußen flattern Wimpel mit den irischen Farben im Wind, flanieren Mädchen mit Sonnenbrillen, schallen nun von dem hölzernen Podest Fetzen des Welthits »New York, New York« herüber: »This litde town blues will melting away...« Das kommt zwar nicht aus der Kehle Frank Sinatras, aber die beiden Iren da oben, eine einzige Vibration, könnten es mit jeder Konkurrenz aufnehmen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat sich eine Menge gelagert, lauscht, summt mit, ruft den Musikern Titel zu.
Erst jetzt entdecke ich eine Kirche, besser ein Kirchlein, von dem ich mich erinnere, irgendwo gelesen zu haben, sie sei die kleinste in ganz Irland - Costello Memorial Chapel.
Unter Glas heilige Sarkophage, davor ein zehnjähriger Junge, allein, völlig ins Gebet versunken, wie taub gegenüber dem Lärm, der von draußen hereintost. Außer uns beiden ist hier niemand.
Vor der großen Kirche an der Hauptstraße hat sich inzwischen eine gespannt wartende Menge eingefunden, während der junge Mann geheimnisvolle Vorbereitungen trifft, um seine Ankündigung - ».. .was ihr noch nie in eurem Leben gesehen habt« - wahr zu machen. Er hat die Hemdsärmel aufgekrempelt, trägt Knickerbocker, eine leichte Weste und auf dem Kopf einen zylinderähnlichen Hut.
Nun läßt er das Einrad mit der langen Metallstange von einem Zuschauer halten und steigt, in der Linken ein Tablett mit einer gefüllten Tasse Kaffee, auf einer schräg gehaltenen Leiter nach oben, bis er auf gleicher Höhe mit dem
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