Mein irisches Tagebuch
Sattel schwebt. Dann bemüht er sich, von der Leiter überzuwechseln, fingiert einige vergebliche Versuche, schafft es dann wie erwartet doch und jongliert, das Tablett mit der Tasse in der Hand, tatsächlich fünf Meter über dem Erdboden ganz oben auf der nun losgelassenen Metallstange. So unglaublich es aussieht, er bleibt, leicht schwankend, auf der Stelle stehen, hält das Tablett hoch in der ausgestreckten Linken, klaubt mit der anderen Hand in seiner Hosentasche nach einem Teelöffel und läßt ihn, unter dem Aufschrei der Menge, in der Tasse landen. Damit immer noch nicht genug, holt der Künsder, forciert hin- und herschwankend, einen winzigen Zuckerwürfel hervor und befördert als Höhepunkt der Galavorstellung auch dieses Stück in den leicht aufspritzenden Kaffee.
Als ihm dann auch noch unbeschadet der Abstieg gelingt, will der verdiente Jubel kein Ende nehmen. Glücklich grinsend, ruft der Jongleur: »Geizhälse leben anderswo, wir sind hier doch nicht in Schotdand!« und läßt es nur so Münzen und Scheine in seinen hingehaltenen Zylinder regnen.
Unterdessen sind die beiden Musiker zur Hochform aufgelaufen und geben einen Evergreen nach dem anderen zum besten, vom »Girl of Ipanema« bis Glenn Millers »In the mood«, hingerissen von der eigenen Virtuosität, ihrer unerschöpflichen Spiellust und der tönenden Resonanz der Zuhörer. Soviel elektronische Orchesterzugabe auch dabei ist, der Schlagzeuger gehört zur Spitzenklasse und der Trompeter erst recht - das schallt wie weiland bei Jericho, nur fröhlicher.
Mir huscht plötzlich ein Gedanke durchs Hirn: »Welche Talentverschwendung an die Provinz«, den ich jedoch sogleich vor mir selbst als töricht und abgeschmackt zurückweise - ein dankbareres, verständigeres und sachkundigeres Auditorium als dieses kann es nicht geben.
Im ruhiger gewordenen Pub jetzt glückliche Mienen - Irland hat das Rugbyspiel gegen Wales mit einem Punkt Vorsprung gewonnen. Die eine Mannschaft, erinnere ich mich, war mit roten, die andere mit grünen Hosen angetreten. Aber welche von beiden war die irische? Das hätte ich nur allzu gern gewußt, unterdrücke die Frage inmitten der guinnessumnebelten Fachsimpelei in »Finn’s Bar« jedoch, um mich nicht freiwillig der Lächerlichkeit preiszugeben.
Vor dem Pub hat eine junge Mutter ihr Kind auf eine Holzlatte gesetzt. Das Baby, eine einzige rosa Wolke, niest und streckt, darüber erschreckt, flehend die Ärmchen aus.
Lautsprecherwagen fahren durch die Straßen und künden von neuen Vergnügungen. Auf Fenstersimsen stehen Gläser mit Bier. Junge Männer haben ihre Jacken ausgezogen und halten Flaschen in der Hand, aber niemand ist betrunken.
Ehe ich Carrick-on-Shannon verlasse, setze mich noch einmal unter die Menge vor der Kirche.
Abends auf der Rückfahrt dann wieder im County Cavan -Lough Forbes vor Longford.
Das Land leuchtet, es schillert unter der sinkenden Sonne -seine Farben, gelb, grün, blau, rot, atmen, freuen sich mit immer neuen Lichttönungen.
Dann die Stunde, in der die unbeschränkte Helligkeit des Tages in die ersten Schatten der Dämmerung übergeht, ein Zauber, der ganz plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, verweht.
Aber hier, in dieser Region, würde ich die Wege nach Mallard Point selbst bei Stockfinsternis und mit verbundenen Augen finden.
Könnte ich leben in diesem Land, für länger oder gar für immer? Es ist müßig, so zu fragen, weil Deutschland mich nicht loslassen wird. Aber wenn es etwas gibt, was mich dazu bewegt, die Frage zu bejahen, dann sind es die Menschen hier, diese Iren.
Aber schon am nächsten Morgen Wechselbad der Gefühle: Nachdem Paul L. mir heute früh den »Irish Independent« und die »Irish Times« hereingereicht hat, möchte ich, nein, nicht die Iren, wohl aber einen Teil von ihnen am liebsten auf den Mond schießen!
Durch die Presse der Republik geistert seit Monaten ein Streit, der sich an der gespenstischen Frage entzündet: Soll eine Frau, die seit ihrem Unfall vor 23 Jahren total gelähmt ist und ohne jede Aussicht auf Heilung künstlich ernährt wird, sterben dürfen oder nicht?
Als vor einiger Zeit, also nach fast einem Vierteljahrhundert vergeblicher Hoffnung auf Besserung, die Mutter der Gelähmten in Übereinstimmung mit der Familie die Leiden der Tochter schmerzlos beenden lassen wollte (nach ärztlicher Auskunft durch Entzug der Flüssigkeitszufuhr) und dieser Wunsch dann auch noch durch ein Urteil des höchsten Gerichtshofs legalisiert
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