Mein irisches Tagebuch
wurde, brach ein Sturm von öffentlichem Für und Wider aus. Im Gegensatz zu der so lange selbstverständlichen Konformität einer Mehrheit mit den waltenden klerikalen und staatlichen Vormächten, bestätigt sich an dieser Tragödie nur noch einmal, wie tief das zeitgenössische Irland in scheinbar für immer und ewig entschiedenen ethischen Fragen inzwischen gespalten ist.
Das zeigte sich vor allem an dem Personal der Klinik, in der die Gelähmte liegt und wo der Eingriff vorzunehmen wäre. Nachdem zunächst seine Gegner mit dem Argument vom »Recht auf Leben« das große Wort führten und jedem, der nach dem Urteil des Gerichtshofs verfahren würde, den beruflichen Ausschluß androhten, kamen langsam Stimmen hoch, die Barmherzigkeit über ein Prinzip stellten, das Leben auch unter Bedingungen erhalten will, unter denen, wie im konkreten Fall, von »Leben« keine Rede mehr sein kann.
Entsprechend diesen entgegengesetzten Mustern ist auch die öffentliche Meinung gespalten, wobei bezeichnenderweise die Sprache der Ablehner eines Eingriffs von erschreckender Rigorosität gegenüber jeder anderen Ansicht geprägt ist: Der Spruch des Gerichts über das Recht zu sterben ändere nichts an den gültigen ethischen Grundlagen. Wer das Urteil umsetze und die künstliche Ernährung stoppe, könne sich auf Maßnahmen gefaßt machen.
Was bisher auf die Familie der Gelähmten von den Gegnern eines Eingriffs an Schmähungen, Beleidigungen und Drohungen bis hin zu Mordankündigungen niederging, ist unbeschreiblich. Es war dann auch die Verzweiflung darüber, die die Mutter zu dem fassungslosen Aufschrei trieb: »Was glauben die Leute eigentlich, was ich meiner geliebten Tochter antun will?«
Da der Streit öffentlich ausgetragen wird, findet hier eine unfreiwillige Entlarvung statt. Denn gerade die Bevölkerungskreise, die unter allen Umständen das »Recht auf Leben« obsiegen lassen wollen und jeden Meinungsgegner als »Unmenschen« (»monster«, »brute«) diskreditieren, entpuppen sich nun ihrerseits schriftlich oder mündlich als Anhänger von erklärtermaßen höchst inhumanen Denk- und Verhaltensweisen. Aus dieser doktrinären Unerbitdichkeit erklärt sich die Schärfe der Gegenseite: Was die Gesinnung der »Lebensverlängerer« so besonders abscheulich mache, lautet ihr zentraler Vorwurf, sei, daß sie den individuellen Fall ignorierten, seine Dauer und seine Hoffnungslosigkeit.
Nun sei zur Klärung gesagt: Irland wird nicht, wie Deutschland, in dieser Frage heimgesucht von den blutigen Schatten der NS-Euthanasie, es ist kein gebranntes Kind, was die Vernichtung »unwerten Lebens« betrifft. Seine Geschichte hat einen Verlauf genommen, der diese Bedenken völlig ausschließt. Das Für und Wider, Bewegung und Blockade, sie haben hier andere Motive.
Beobachtung und Lektüre der Auseinandersetzung ergeben aufschlußreiche Charakteristika. Zum Beispiel, daß die unbarmherzigsten Gedanken gerade von denen kommen, die sich am christlichsten gebärden. Auch rufen nun ausgerechnet die Kreise, die sich sonst in Gesetzestreue von niemandem übertreffen lassen wollen, diesmal dazu auf, das Urteil des höchsten Gerichts nicht zu befolgen. Und so werden zur Überraschung vieler gerade aus besonders frommen Staatsbürgern über Nacht Rebellen.
Daß sich die katholische Amtskirche in der vordersten Reihe der Eingriffsgegner sieht, braucht kaum erwähnt zu werden. Wie sich überhaupt im Verlauf des Streits herausgestellt hat, daß eine hohe Identität besteht zwischen den Abtreibungsgegnern, also den Verfechtern des pränatalen Lebens, und jener Unbarmherzigkeit gegenüber dem postnatalen Leben, die der vorliegende Fall so grell ans Tageslicht gebracht hat.
Soweit ich die monatelange Auseinandersetzung in den Medien und in vielen Gesprächen miterleben konnte, haben die Befürworter des Flüssigkeitsentzugs, um das Leben der Gelähmten zu beenden, nie bezweifelt, daß es auch ehrenwerte Motive und Einwände gegen einen solchen Eingriff gibt. Nur haben diese auf seiten seiner Gegner zu keinem Zeitpunkt den öffentlichen Ton bestimmt. Vorgeherrscht hat dort vielmehr eine Form polemischer Selbstgerechtigkeit, von der der liberale Teil der irischen Gesellschaft sich sichtlich schockiert zeigt, ohne sich entmutigen zu lassen.
Den Trubel, die Heiterkeit, das tolerante Miteinander bei dem Volksfest in Carrick-on-Shannon noch im Ohr und im Gedächtnis, zeigt mir die Konfrontation mit dieser Auseinandersetzung nur noch einmal, welchen
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