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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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entsprechend.
    »Dann werden wir nie dahinkommen«, hält Kathleen Skelly dagegen, »denn diese Vereinigung wird es nicht geben.«
    »Wenn du wenigstens sagen würdest: zu unseren Lebzeiten nicht«, seufzt ihr Mann und macht eine Bewegung, als wollte er mir bedeuten: Was seine Frau sage, sei nicht so ernst zu nehmen. Wirklich nicht?
    Gemeinsam sind sie beunruhigt über den florierenden Verkauf von Grundstücken und Häusern an Ausländer, schwanken aber, ob das die richtige Einstellung sei: Europa - ja; Tourismus - in Ordnung. Aber seßhaft werden, sich hier einkaufen?
    »Der Westen Irlands ist davon nicht so bedroht wie der Osten und der Süden. Aber das kann noch werden. Wir Iren sind gebrannte Kinder, wenn Fremde bleiben wollen. Das geht so schnell nicht aus uns heraus.«
    My home is my castle - das eigene Heim als Lebensburg?
    »Ja«, sagt Kathleen Skelly, »das gilt für Irland noch mehr als für England, woher der Spruch doch stammt. Kein Land in der Welt hat so viel Privatbesitz an Haus und Grund und Boden wie unseres. Keine Jugend will rascher weg von den Eltern und selbständig werden - im eigenen Haus. Das ist wie eine Manie.«
    »Und das geht nur auf Pump«, ergänzt er, »nur auf Kredit. Also sind wir auch eine der höchstverschuldeten Bevölkerungen auf der Erde.«
    Es ist Spätnachmittag geworden und der Kuchenberg vor mir erst halb abgetragen, die Skellys aber dringen auf totalen Verzehr. Gegen diese Gastfreundschaft komme ich nicht an, also mampfe ich tapfer weiter, verdonnere mich aber selbst dazu, ab morgen zu fasten.
    »Ich schreibe ein Tagebuch, seit vierzehn Jahren.«James Skelly fordert mich auf, ihm zu folgen, holt in der guten Stube ein dickes Album aus einem Fach hervor und zeigt auf das Datum der letzten Eintragung - gestern. »Darin schreibe ich auf, was es so gibt, was sich ereignet, klein oder groß, ganz egal. Manchmal passiert auch gar nichts.«
    Und manchmal Schreckliches.
    Auf einer Kommode, neben einem ausgestopften Fasan, entdecke ich ein Foto, das vollkommen beherrscht wird von einer jungen Frau - ganz in Weiß, mit Hochzeitsschleier, Grübchen in den Wangen, schlank wie eine Lilie, verzückt lachend, die Lebensfreude selbst. Neben ihr, in der emporgereckten Hand einen Blumenstrauß, ein gleichaltriger, vielleicht sogar jüngerer Mann im schwarzen Anzug und mit gefrorenem Lächeln um den Mund. Ahnungslos wie ich bin, schaue ich die beiden fragend an und sehe, wie ihre Mienen sich um einen Schatten verdüstern. Dann nimmt Kathleen Skelly das Bild in die Hand und sagt mit sichtlicher Überwindung: »Da wußte unsere Tochter noch nicht, daß sie gerade einen Trinker geheiratet hatte, einen gewalttätigen Burschen, der sie schon einen Tag danach schlug und dann immer wieder. Ohne uns davon je auch nur ein Wort zu sagen, hat sie das ein Jahr ausgehalten, bis sie nicht mehr konnte.« Dann, nach einer Pause: »Sie war neunzehn, als sie Selbstmord beging.«
    Das also ist die Erklärung dafür, daß James Skelly vorhin im Wagen stockte, als er davon sprach, daß eine seiner Töchter gestorben sei.
    Jetzt holt seine Frau ein schweres Lederalbum aus einer Schublade und blättert darin die fotografische Chronik ihres toten Kindes auf, vom Säuglingsalter an, selbstvergessen, nur dann und wann einen Kommentar murmelnd, den ich nicht verstehe. Aber Kathleen Skelly ist sich ohnehin nicht mehr bewußt, daß ihr jemand zuschaut, wie sie da Seite um Seite umschlägt, vor einigen länger verharrt, auf anderen rasch mit den Fingerspitzen über die Fotos der Tochter fährt - und ganz plötzlich, als durchführe sie ein durchdringender Schmerz, das Album zuklappt.
    Dennoch hatte ich wahrnehmen können, was die Ursache für den jähen Abbruch war - ein Foto, auf dem der Bräutigam die Braut küßt, die, selig vor Glück, ein Bein von der Erde abgehoben und es mit dem hochhackigen Schuh waagerecht vom Knie ab nach hinten weggeknickt hat.
    Zum Abschied treten Kathleen und James Skelly mit vor die Tür, älter, als sie mir anfangs schienen - sie das Album noch unterm Arm, er mit wirrem Haar und in Hosenträgern, beide in einer gebeugten Würde, von der sie nichts ahnen.
    »Wenn die Straße nicht so eng gewesen wäre, hätten wir einander nie kennengelernt«, sagt er wieder. Und fügt an: »Es ist unwahrscheinlich, daß wir uns noch einmal begegnen. Aber ich glaube, wir werden uns nicht vergessen.« Ganz gewiß nicht, denke ich.
    Und mache es hier wahr.
     
    In Mallard Point zurück, wird der Tagesausgang

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