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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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langsames Kippen der Scheibe abgegossen werden.
    Reber bat darum, sich ausruhen zu dürfen, und legte sich in seinem Büro auf die Liege. Swoboda wollte dem Sinkvorgang des Pigments zusehen, als ginge das nicht ohne seine Beobachtung. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich neben den Leuchttisch, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Glasbild im Deckenspiegel. Ihm war, als ob sich von dort oben eine farbige Stille über ihn senkte. Er spürte, wie die Stille sich in ihm ausbreitete, aber nicht dunkel, sondern wie eine weite, helle Ebene, in der die Farben sich wechselseitig hervorriefen und vermischten.
    Ihm fiel sein Telefon ein, er zog es aus der Tasche, schaltete es aus, steckte es zurück.
    Er rutschte in seinem Stuhl etwas nach vorn, ließ sich zusammensinken, um seinen Nacken besser auf die Rückenlehne legen zu können, und sah wieder zu dem Ebenbild seines Glasfensters im Spiegel auf. Ferne Geräusche von der Sandstrahlmaschine im Keller drangen an sein Ohr, die Luftabsaugung kam in Gang und hörte wieder auf. Und so, wie die Farbpigmente sich langsam auf dem Glas absetzten und sich mit ihm verbanden, sank Swoboda mit offenen Augen in den Zustand einer künstlerischen Selbstgewissheit, die er zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr und zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Als ob er nach vielen Umwegen endlich in sich angekommen wäre.

    Wilfried Herking quetschte die leere Zigarettenschachtel zusammen und warf sie in den Papierkorb. Aminata, die ihm auf der anderen Schreibtischseite gegenübersaß, war froh, dass der Redakteur endlich eine Rauchpause einlegen musste.
    Die Situation, in der sie sich befanden, war für Journalisten ungewöhnlich: Aminata hatte ihn während ihres Münchner Aufenthaltes mit Michaela Bossi telefonisch über die Geschichte ihres Vaters informiert und um ein Gespräch gebeten.
    Herking hatte sofort zu recherchieren begonnen und konnte ihr nun berichten, in welchem Zusammenhang das Schicksal ihres Großvaters zu sehen war. Zwei Aufnahmegeräte speicherten ihre Mitteilungen: Das von Herking lag vor Aminata auf dem Schreibtisch, und ihres lag vor dem Redakteur.
    Er fühlte sich geschmeichelt, weil sie darauf bestand, ihn für ihr britisches Magazin zu interviewen. Sie war mit der Absicht gekommen, dass Herking für das Kopfblatt der Zungerer Nachrichten eine ausführliche Geschichte über Yoro Mboge und seinen Weg vom Senegal über den Krieg, von der Gefangennahme über die Flucht bis zum Tod im Fischerhaus an der Nelda schrieb. Gemeinsam würden sie diese Geschichte, die von der Familie Paintner so sorgfältig verborgen und verschwiegen worden war, in die Welt tragen.
    Herking hatte ihr nach dem nächtlichen Überfall einen Tag Zeit gelassen, bestand jetzt aber auf dem wechselseitigen Interview. Er träumte bereits wieder von einer neuen Karriere, die ihn dieses Mal vielleicht sogar nach London führen würde.
    Seine gründlichen Recherchen waren abgeschlossen: Die deutsche Wehrmacht beging während des Frankreichfeldzugs 1940 Massaker an gefangen genommenen französischen Soldaten aus dem Senegal. Schwarze Gefangene wurden nackt, gemeinsam mit grinsenden deutschen Soldaten daneben fotografiert und nach dieser Demütigung ermordet. Manchmal gelang es weißen französischen Offizieren, solche Massaker zu verhindern. Die so vor dem Tod bewahrten Tirailleurs Sénégalais kamen in Gefangenenlager im besetzten Frankreich, manche nach Deutschland. Wie Yoro Mboge. Ob hier auch an ihm medizinische Experimente durchgeführt wurden, ließ sich nicht mehr ermitteln. Deutsche Historiker, die nach 1945 jede sonstige Episode des Krieges erforschten, zeigten so gut wie kein Interesse an diesen Verbrechen der Wehrmacht in Frankreich.
    Aus Herkings Recherchen erfuhr Aminata, wie die Deutschen mit ihren schwarzen Staatsbürgern umgegangen waren. Schon nach dem Ersten Weltkrieg gab es während der französischen Rheinlandbesetzung ab 1921 auch Liebesbeziehungen zwischen franko-afrikanischen Besatzern und deutschen Frauen: Die sogenannten Rheinlandbastarde entstanden. Seit 1937 wurden diese Kinder per Gesetz zwangssterilisiert. Ein Flugblatt wurde in Umlauf gesetzt: Deutsche Frauen, deutsche Mädchen! Haltet euch fern von Juden, Negern, Russen, Mongolen! Zeigt Rassestolz! Die Staatsdeutschen schwarzer Hautfarbe aus den verlorenen afrikanischen Kolonien wurden in der Deutschen Afrika-Schau isoliert, kamen ins KZ, wurden willkürlich sterilisiert, ein paar hatten Glück und überlebten als

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