Mein Ist Die Nacht
Fahrbahnrand geparkt, dass der vorbeifließende
Verkehr die Leiche nicht sehen konnte. Auf Höhe der toten Frau
befand sich die seitliche Schiebetüre des Kastenwagens, mit
dem die Kollegen der Spurensicherung ihre Ausrüstung zu den
Einsätzen transportierten.
»Das kann ganz
schnell gegangen sein«, erwiderte Micha und deutete mit dem
Kinn auf die Schiebetür. »Er fährt mit dem Auto
vor, hält kurz rechts an, öffnet die Tür und wirft
die Leiche ins Gebüsch, um dann in der Nacht zu verschwinden.
Vielleicht sogar mit einem blickdichten Lieferwagen, so wie der
Wagen der Spurensicherung, das könnte passen. Die Ampel ist
rot, er klettert nach hinten, öffnet von innen die
Schiebetür und wirft sie aus dem Wagen. Er klettert wieder
nach vorn auf den Fahrersitz, die Ampel wird grün, und er
fährt weiter, als wäre nichts geschehen. Bei diesem
Mistwetter kriegt davon keiner was mit.«
»Die Ampel ist
um diese Zeit abgeschaltet. Die Stadt muss Strom sparen«,
murmelte Franka nachdenklich. »Der Wagen des Täters muss
also entweder vorgefahren sein, als die Ampel noch in Betrieb war,
oder er hat angehalten, obwohl die Ampel aus und gar nicht rot war.
Ich will trotzdem, dass alle Anwohner befragt werden«,
erwiderte Franka. »Irgendjemand hat bestimmt ein
auffälliges Auto gesehen und hat idealerweise das
Nummernschild notiert.« Sie grinste. »Wär' doch
ganz brauchbar, oder?«
Michas Blick glitt
über die Fassaden der umliegenden Häuser. Überall
hingen Neugierige an den Fenstern.
Der späte Einsatz
der Kriminalpolizei und das Aufgebot an Pressefotografen, deren
Blitze durch die Nacht zuckten, hatten die Menschen auf den
Leichenfund aufmerksam gemacht. Die Gebäude stammten aus den
50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts und beherbergten
Mietwohnungen und kleinere Einzelhandelsgeschäfte. Gastronomie
beschränkte sich in diesem Bereich der vierspurigen
Straße auf Frittenbuden und Kioske, die alle schon
geschlossen hatten.
Hier würden sie
schätzungsweise gefühlte zehntausend Zeugenhinweise
erhalten.
Micha seufzte
gequält. »Zu schön, um wahr zu sein, Frau Kollegin.
Aber wenn es dich beruhigt: Es sind schon Kollegen unterwegs in den
umliegenden Häusern, um die Bewohner zu fragen, dauert aber
wohl noch. Wir müssen das Ergebnis der Befragung abwarten, da
beißt die Maus kein' Faden ab.«
Franka nickte. Sie
fürchtete, dass ihr Kollege Recht hatte. Der Gedanke, dass in
dieser Stadt ein irrer Mörder herumlief, bereitete ihr
Magenschmerzen.
10
21.30
Uhr
Schon vier Mal hatte
er den Astra um den Block gelenkt, immer weit nach vorn gebeugt und
an der Fassade des vergammelten Altbaus emporblickend. Inzwischen
waren alle Fenster dunkel. Das konnte nur bedeuten, dass die
Fotosession längst beendet war und dieser Künstler im
Bett lag und schlief- hoffentlich alleine.
Mehrmals schon hatte
er versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, immer vergeblich.
Schon beim ersten Klingeln schaltete sich die Mailbox ein - ein
sicheres Zeichen dafür, dass ihr Handy abgeschaltet
war.
Unter seine Wut und
Eifersucht mischte sich jetzt Angst. Diese Mischung beflügelte
seine Phantasie. Horrorvisionen tauchten vor seinem geistigen Auge
auf. Gedanken, die ihn an den Rand des Wahnsinns brachten. War ihr
etwas zugestoßen? In wessen Hände war sie da nur
geraten?
Nachdem er bereits zum
vierten Mal vor dem heruntergekommenen Fabrikgebäude stand,
schaltete Tom Belter den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt und
stieg aus. Er hasste das Patschen des Schneematsches unter seinen
groben Sohlen und sehnte den Frühling herbei. Mit langen
Schritten stapfte er durch die nasse Pampe auf den Eingang der
alten Fabrik zu. Da der Schnee geschmolzen war, konnte er keine
Fußspuren mehr im Schnee ausmachen. Eine Beleuchtung gab es
nicht, oder sie war abgeschaltet. So zog er ein Feuerzeug hervor,
um einen Blick auf das Namensschild neben dem Klingelknopf werfen
zu können. Seine Hand zitterte, und er schirmte die kleine
Flamme mit der Linken ab, um sie vor dem Wind zu schützen. Die
Klingelschilder waren aus Kunststoff und von Flammen versengt
worden. Fast unmöglich, etwas entziffern zu können.
Vergeblich versuchte er sich an den Namen des Fotografen zu
erinnern. Mandy hatte immer nur von einem »Clay«
gesprochen. Da sie ihn jedoch im Internet kennen gelernt hatte,
bezweifelte er, dass es sich dabei um seinen echten Namen handelte.
Vermutlich war Clay nur einer dieser Nicknames, um seine wahre
Identität zu verbergen. Dann konnte
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