Mein ist die Stunde der Nacht
erstanden hatte. Auf dem Friedhof hatte sie furchtbar gefroren, und den ganzen Tag über hatte sie vergeblich versucht, das Frösteln wieder loszuwerden. Sie hatte das Gefühl, dass die klamme Kälte sich sogar in der Jacke und Hose, die sie dort getragen hatte, festgesetzt hatte.
Lächerliche Vorstellung, sagte sie sich, während sie vor dem Badezimmerspiegel stand, ihr Make-up auffrischte und sich die Haare bürstete. Plötzlich hielt sie inne und starrte auf die Bürste in ihrer Hand. Wie war es möglich, dass jemand es geschafft hatte, so nahe an Lily heranzukommen, dass er oder sie die Gelegenheit gehabt hatte, ihre Bürste zu entwenden?
Oder wäre es möglich, dass Lily nach mir geforscht und mich ausfindig gemacht hat und mich jetzt dafür bestrafen will, dass ich sie weggegeben habe? Der Gedanke peinigte sie. Sie ist jetzt neunzehneinhalb Jahre alt. Was hat sie für ein Leben gehabt? Sind die Leute, die sie adoptiert haben, wirklich ein so wunderbares Paar gewesen, wie Dr. Connors es beschrieben hat? Oder haben sie sich, nachdem sie das Baby bei sich hatten, schon bald als schlechte Eltern entpuppt?
Ein untrüglicher Instinkt sagte Jean, dass es nicht Lily sein konnte, die mit ihr spielte und sie quälte. Es ist jemand anders, jemand, der mir wehtun will. Fordere Geld von mir, flehte sie stumm. Ich werde dir Geld geben, aber bitte tu ihr nichts an.
Sie blickte wieder in den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Man hatte ihr schon mehrmals gesagt, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Katie Couric habe, der Moderatorin der Sendung Today , und der Vergleich schmeichelte ihr. Sieht Lily mir ähnlich?, fragte sie sich. Oder sieht sie mehr wie Reed aus? Die Haare an ihrer Bürste waren so blond, und er hatte ihr erzählt, seine Mutter habe immer gesagt, seine Haare hätten die Farbe von Winterweizen. Das bedeutet, sie hat seine Haare, dachte sie. Reeds Augen waren blau, genau wie meine, also hat sie mit Sicherheit auch blaue Augen.
Mit dieser Art von Spekulation befand sie sich wieder auf vertrautem Gebiet. Kopfschüttelnd legte Jean die Bürste auf die Ablage zurück, knipste das Licht im Badezimmer aus, nahm ihre Tasche und ging hinunter, um die andern zum Abendessen zu treffen.
Gordon Amory, Robby Brent und Jack Emerson saßen in dem nahezu leeren Saal schon um einen Tisch. Als sie aufstanden, um sie zu begrüßen, fiel ihr auf, wie groß der Unterschied in Aussehen und Kleidung zwischen ihnen war. Amory trug ein Kaschmirhemd ohne Krawatte und ein teures Tweedsakko. Alles an ihm sah nach erfolgreichem Manager aus. Robby Brent hatte nicht mehr den Pullover mit Zopfmuster an wie beim Brunch. Der Rollkragenpulli, den er jetzt trug, betonte unvorteilhaft seinen kurzen Hals und untersetzten Körperbau. Ein leichtes Schwitzen an Stirn und Wangen ließ seine Haut glänzen, was Jean geradezu abstoßend fand. Jack Emersons Cordjackett war gut geschnitten, aber das rot-weiß karierte Hemd und die grellbunte Krawatte, die er dazu trug, sahen absolut verboten aus. Der Gedanke fuhr
ihr durch den Kopf, dass auf Jack Emerson mit seinem fleischigen, immer etwas geröteten Gesicht der alte Slogan aus der Kampagne gegen Nixon passte: »Würden Sie diesem Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen?«
Jack zog einladend den freien Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor und tätschelte ihren Arm, als sie sich setzte. In einem Reflex versteifte sich Jean und zog den Arm weg.
»Wir haben schon Getränke bestellt, Jeannie«, sagte Emerson. »Für dich habe ich auf gut Glück einen Chardonnay bestellt.«
»Das ist gut. Seid ihr alle zu früh dran, oder bin ich zu spät?«
»Wir sind ein bisschen zu früh. Du bist genau pünktlich, und Carter ist noch nicht da.«
Zwanzig Minuten später, als sie gerade darüber debattierten, ob sie schon das Essen bestellen sollten oder nicht, tauchte Carter auf. »Tut mir leid, dass ich euch hab warten lassen, aber ich hatte nicht erwartet, dass es schon so bald wieder ein Klassentreffen gibt«, bemerkte er trocken, als er sich zu ihnen setzte. Er trug jetzt Jeans und ein Sweatshirt mit Kapuze.
»Das hat wohl keiner von uns erwartet«, stimmte Gordon Amory zu. »Ich schlage vor, du bestellst dir was zu trinken, und dann kommen wir zur Sache.«
Carter nickte. Er gab dem Kellner einen Wink und zeigte auf den Martini, der vor Emerson stand. »Schieß los«, sagte er in trockenem Ton zu Gordon.
»Ich möchte zunächst sagen, dass ich ein bisschen nachgedacht habe, und ich glaube und hoffe, dass
Weitere Kostenlose Bücher