Mein Jahr als Mörder
nachkommt, da nehme ich doch lieber die Schuld auf mich. Danach hatten wir Ruhe, Heß und seine Leute andere Sorgen.
So war Georg, er schmeichelte diesem Verbrecher, ohne ihm das Gefühl zu geben, umschmeichelt zu werden. Heß mochte und brauchte ihn, Georg verachtete und brauchte ihn. Er war unser bester Schutz, falls die Gestapo eines Tages Verdacht schöpfen sollte. Und es ging ja alles gut, bis dieser Trottel im Mai 1941 nach England geflogen ist. Eine Woche zuvor hatte er von Georg ein Aufputschmittel haben wollen, Zyklithon, glaube ich, das ihn so lange wie möglich wach halten sollte. Georg gibt ihm das, natürlich ohne zu ahnen, dass das für den langen Flug nach England gebraucht wird. Heß ruft nach drei Tagen an, ob es nicht ein stärkeres Mittel gebe, Georg antwortet ihm: Nehmen Sie die doppelte Dosis! Und der fliegt los. In seinem Wahn wollte Heß die Engländer überreden, beim bevorstehenden Feldzug Hitlers gegen die Sowjetunion mitzumarschieren, um den Bolschewismus ein für alle Mal zu vernichten. Na ja, der Rest ist bekannt: Die Nazis erklären ihn für verrückt, und das war er ja auch, wie fast alle diese Figuren. Jetzt sitzt mein Tanzpartner ein paar Kilometer von hier in Spandau, und ich werde immer den traurigen Satz von Georg aus jenem Mai 41 im Ohr behalten: Meine stärkste Kanone ist nach hinten losgegangen.
Das weite Herz
-Was ist das für eine Frau, die mit ihren ärgsten Feinden Walzer tanzt, den Mann durch den Henker verliert, dich mit Nils Holgersson tröstet und später im freien Westen zur Hexe erklärt wird?, fragte Catherine, als sie Frau Groscurth noch nicht kannte.
- Falls du einen Steckbrief brauchst, bitte: ziemlich groß, ich schätze 1,78, schmale Figur, kurzes dunkelbraunes Haar, Dauerwelle, Brille. Lebhaftes ovales Gesicht, hellwach, liebevolle Augen, meist lächelnd, selten streng, oft erschöpft. Mehr Lach- als Sorgenfalten. Kurze Nase, hohe, warme Stimme, leicht kieksend. Ein Temperament entschiedener Herzlichkeit, wer sie kennt, sagt: Ein weites Herz.
- Woher hat sie das?
Damals wusste ich zu wenig, heute könnte ich antworten:
- Familie, vielleicht. Ihr Vater, Heinrich Plumpe, hoher Manager der Industrie, bei Krupp, Dortmunder Union usw., dann Chef von Hanomag, Wehrwirtschaftsführer, also Partei. Großbürgerlich, bestes Einkommen, und doch mit Sensibilität und politischen Skrupeln. Die Mutter, Else Plumpe, hatte als Kindergärtnerin am britischen Hof gearbeitet. Beide eher deutschnational als Nazis, sie verabscheuen die Hetze gegen die Juden. Annelieses Onkel war übrigens Friedrich Wilhelm Plumpe, der als Friedrich Wilhelm Murnau in Berlin und Hollywood berühmt wurde und Filmgeschichte schrieb.
- Bleib bei Anneliese: das weite Herz.
- Ende der zwanziger Jahre, das junge Mädchen wirft dem Vater vor, für die Rüstung zu arbeiten, der Vater kontert: Du änderst die Welt nicht! Also will sie die Welt ändern und Ärztin werden. Medizin studierte man in den dreißiger Jahren nicht wegen des idealen Notendurchschnitts. Helfer-Ethos, weibliche Disziplin, soziale Ader, sozialistische Neigungen. Ein weites Herz kann nicht für die Nazis sein. Irgendwann fällt der Groschen, sagte sie später. Sie paukt in Greifswald, Innsbruck, Rostock und Berlin und geht als Volontärärztin ins Robert-Koch-Krankenhaus. Ihr Oberarzt ist Georg Groscurth, ein auffallend vergnügter, lebhafter, kluger und begeisternder Mann.
- Nun aber!
- Die schlanke, schöne Gestalt der Sechsundzwanzigjährigen fällt dem Frauenfreund Groscurth sofort ins Auge, dazu das zarte Gesicht und ihre entschlossene Art. Er ist 32. Gelegenheiten zur Annäherung gibt es genügend, entscheidend sind jedoch politische Kriterien.
- Politische?
- 1936! Was sie von den Juden halte, fragt der Oberarzt vorsichtig. Sie schätze die Juden, habe einige Freundinnen, sei beschämt über den staatlichen Antisemitismus. Damit ist das größte Hindernis für die Liebe überwunden, die Funken dürfen sprühen. Sie zögert fast ein Jahr, den Liebhaber, mit dem sie das Leben teilen möchte, ihren Eltern vorzustellen.
- Bauernsohn und arm.
- Schlimmer noch, ein kühner Anti-Nazi. Aber der gesellige, charmante, gebildete Mensch schafft es rasch, die Plumpes für sich zu gewinnen. Die Hand der Tochter ist auch das Erbe der Tochter. Bedingung: Mit der Heirat soll gewartet werden, bis Anneliese den Doktor hat. In Unterhaun, auf dem Groscurth' sehen Hof, freuen sich alle, dass der eigenwillige Sohn, auf den sie so stolz sind,
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