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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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die vielköpfige Hydra der Behörden sei mit Argumenten, Beweisen, Erklärungen zu beschwichtigen. Sie spricht über die Grundwerte der Verfassung. Sie zählt auf, welche bekannten Leute aller Parteien, welche Christen aller Richtungen sich den Aufrufen für Frieden angeschlossen haben. Sie beruft sich auf den zurückgetretenen Innenminister Heinemann. Sie fordert Verständigung, weil sie nicht wahrhaben will, dass die Hydra nichts so fürchtet wie Verständigung. Sie legt noch einmal dar, dass erst die Presse aus der so genannten eine kommunistische Volksbefragung gemacht und ihr das Kommunisten-Etikett völlig unberechtigt aufgeklebt habe. Sie fordert Beweise für ihre angebliche kommunistische Aktion. Sie möchte wissen, wie sie die demokratische Ordnung gefährdet haben soll.
    Sie hat sich nie ihrer Taten während des Krieges gerühmt, aber nun versucht sie die Hydra milde zu stimmen mit dem Hinweis auf ihren aktiven Kampf gegen die Naziherrschaft. Der Hydra aber, das ahnt sie noch nicht, ist der Widerstand gegen eine andere, größere Hydra besonders verdächtig, weil die Frau den Kampf überlebt und sich als stark, also gefährlich erwiesen hat. Sie appelliert: Die Akten der Prozesse gegen die Widerstandsgruppe Europäische Union beweisen mehr als alle Worte die Aktivitäten ihres Mannes. Er habe dafür mit dem Tode bezahlt. Ob sie dafür bestraft werden soll, dass sie im Sinne ihres ermordeten Mannes handle?
    Der Anwalt schickt die Beschwerde an die Hydra für Sozialwesen. Anneliese hofft auf ein paar Tage Ruhe, da regt sich der nächste Schlangenkopf. Eine Schwester aus dem Krankenhaus Moabit, die auf Georgs Station gearbeitet hat, teilt ihr mit, die Gedenktafel für Georg im Kasino sei entfernt worden. Es ist unklar, ob im Auftrag des Chefarztes oder des Senators für Gesundheit. Sie ist sprachlos. Sie verfolgen nicht nur die lebenden, sondern auch die toten Antifaschisten! Nun wird sogar Georg für die Volksbefragung verdammt. Sippenhaft! Sie löschen die Erinnerung an die Vorbilder aus, an den Oberarzt, der hier in Moabit Dutzende, vielleicht hundert oder mehr Menschen vor den Nazis und ihrem Krieg gerettet hat. Sie möchte brüllen: Faschisten! Sie muss sich beherrschen. Sie beherrscht sich. Sie sagt sich: Sag nichts. Einen dritten Kampf anfangen, eine dritte Klage einreichen, das wäre zu viel, es ist jetzt schon zu viel.
    Inzwischen hat der Groscurth-Ausschuss das Manuskript einer Broschüre fertig gestellt mit den Ergebnissen des Tribunals zum 15. August. Robert bittet sie um ein Vorwort. Sie zögert. Es war bestimmt ein Fehler, mit dem Ausschuss dem Arbeitsgericht einen Vor wand geliefert zu haben. Andererseits, der Widerruf ihrer Anerkennung als politisch Verfolgte ist vom 4. August. Sie hätte sowieso keine Chance gehabt. Längst vor dem 15. August stand die Verdammung fest. Sie hat im Westen keine Chance mehr. Die Schulden wachsen. Hier Kommunistin, drüben mutige Friedenskämpferin, beides falsch, gegen welche Lüge entscheidet sie sich? Gegen beide, sie bleibt und nimmt das Angebot einer Halbtagsstelle als Betriebsärztin beim Berliner Rundfunk in der Masurenallee an. Der Sender wird von der DDR gesteuert, liegt aber mitten im britischen Sektor, fünf Minuten von Wohnung und Praxis, die Hälfte der Mitarbeiter kommt auch aus dem Westen. Was für ein Glück! Vormittags kann sie die Leute vom Funk, nachmittags ihre Patienten aus dem Westend behandeln.
    Man muss, das ist ihre Devise, ordentlich zu Ende bringen, was man angefangen hat. Also schreibt sie das Vorwort, auch Robert zuliebe. In dem Text steckt ihr zu viel Propaganda, zu viel Hass gegen den Westen, unter dem Wust der aufgela-denen, anklagenden Wörter sind die Schnipsel der Fakten kaum zu entdecken. Sie mag den Parteijargon, den platten Stalinton nicht lesen. Der Ausschuss mit dem Namen Georgs will ihr eine armselige Sprache aufdrängen, vor der Georg sich geschüttelt hätte. Aber was zählt die Sprache, sagt sie sich tapfer, wenn man für Frieden und gegen Nazis kämpfen muss, und schreibt in anderen, ihren eigenen Worten:
    «Ich nenne nicht den einen Menschen, der für den Menschen nicht sorgt.» Diese Worte des großen usbekischen Nationaldichters Ali-scher Nawoi, der im 15. Jahrhundert lebte, gelten gestern, wie heute, wie morgen. (Wenn das die obligate Verbeugung vor der Sowjetunion sein soll, dann auf schlichte und unverlogene Art.)
    Die Sorge um unsere Jugend, um ihr Leben in Frieden war der Anlaß zu meinem Aufruf, die Vorfälle,

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