Mein Jahr als Mörder
Einzigen hier oben, für Rodler zu wenig Schnee, für Drachen zu wenig
Wind, für Spaziergänger zu glatt.
- Der ganze Krampf des Kalten Krieges, sagte ich, war ja auch ein Sprachkrampf. Die Einzigen, die ihr eine Sprache anboten, die zu ihren Gedanken und Überzeugungen halbwegs passte, das waren die im Osten. Die haben sie benutzt, ihr Orden angehängt. Der Westen dagegen war so mit seinem Hass auf den Osten beschäftigt, dass Anneliese hier nichts als Kriegsdeutsch hörte. Deshalb gingen Leute wie sie ja reihenweise in die DDR oder in die entsprechende Westpartei, bis die meisten nach einigen Jahren frustriert wieder aus-stiegen - auch dieser Versuchung hat sie widerstanden, grade deswegen zerrten die Richter sie auf den Scheiterhaufen der Paragraphen.
Eine spontane Phrase, auf die ich stolz war, die sofort notiert werden musste, Catherine fragte ungerührt weiter:
- Orden? Hätte sie die nicht ablehnen können? Mit dem Argument: Ich bin neutral, das ist ein SED-Orden, oder: Ich bin Westberlinerin.
- Sie hat gesagt, sie finde die Ordenstour grauenvoll, aber sie habe die beiden Orden als Anerkennung für Georgs Widerstand begriffen. Wir unterschätzen immer, glaub ich, wie feindlich es zwischen Ost und West zu ging. Wenn auf der einen Seite der Vertreter des Senats vor Gericht sie als Ärztin mit der Giftspritze diffamiert und den Widerstand gegen die Nazis verhöhnt und wenn sie auf der ändern Seite ein wenig Respekt bekommt als Friedensfreundin, soll sie da die wenigen Leute, die zu ihr halten und das Andenken ihres Mannes wahren, mit der Ablehnung solch eines Ordens verprellen? Die Unterstützung, die Sympathie ihrer Freunde zu verlieren, das machte ihr mehr Furcht, als den Gegnern neue Munition zu liefern. Außerdem gab es wohl ein bisschen Geld, das sie in ihrer Lage dringend brauchte, aber korrumpierbar war sie, da bin ich sicher, auch in diesem Punkt nicht. Nur die Clara-Zetkin-Medaille, auf die war sie persönlich stolz, die wurde nämlich nur an Frauen gegeben, an berufstätige, vorbildliche, tapfere Frauen. Und warum sollte sie solche Ehrungen ablehnen, wenn gleichzeitig, seit 1957, im Westen wieder die Mörder-Orden der Nazis getragen werden durften?
Catherine hantierte mit ihrer Kamera, die Farben des Himmels hatten sich verfeinert. Die Zirruswolken waren hellrot geworden, und die dunkleren Wolken im Nordosten, die neuen Schnee versprachen, wurden von der sich neigenden Sonne violett getönt. Auch das Himmelsblau wurde dunkler, während auf der Seite der Sonne die sattere Rötlichkeit zunahm. Das Spiel des Himmels mit seinen Farben verschob und änderte sich in jeder Minute, in jeder Sekunde, und ich beneidete weder die Maler noch die Fotografen um die Arbeit, die prächtigsten solcher Momente festzuhalten. Catherine war beschäftigt, wechselte Linsen und Filter. Ich durfte mit keiner Bemerkung stören. Besser Landschaftsfotografie, dachte ich, als Soziologie. Ein Fluch, dann gab sie auf.
- Das Olympiastadion, ich wollte das mal hinkriegen mit dem satten Himmel drüber, sagte sie, aber wir sind zu weit weg.
Wir rutschten und kletterten abwärts, den nördlichen Abhang hinunter, bis wir einen unteren Waldweg erreichten.
- Ist Frau Groscurth nicht eigentlich unpolitisch?, fragte Catherine.
- Quatsch! Sie kommt aus großbürgerlicher Familie, sicher, Industrielle, und in harmloseren Zeiten wäre sie vielleicht unpolitisch geblieben. Die Nazis haben sie politisiert, damals, und nach dem Krieg erst recht. Sie war ja extrem bescheiden und ist es noch: Im Sinne ihres Mannes wirken, mehr wollte sie nie. Aber wenn du siehst, wie die Nazibeamten die Ämter besetzen, wie Nazigeneräle wieder die Jugend kommandieren, wenn SS-Verbände sich treffen und feiern, wie Landsmannschaften, die am liebsten morgen in Polen und der Tschechoslowakei einmarschieren, von der Regierung hofiert werden und die Verfolgten des Naziregimes sich nicht öffentlich versammeln dürfen...
- Ich weiß, aber irgendwie ist das doch nur moralisch ...
- Nur, sagst du, nur? Seit wann ist moralisch nicht politisch? Haben dir das deine Soziologen beigebracht?
Sofort verstrickten wir uns in einen sinnlosen Streit um das ideale politische Verhalten, in die Plattitüden der endsechziger Jahre, die zum Glück nicht in mein Geständnis gehören.
Schaden an Leben, Schaden an Freiheit
Fortsetzung folgt: Die Ärztin Groscurth gibt es nicht auf, das Abenteuer, in einem Rechtsstaat das Recht zu suchen.
Die Entschädigungsgesetze sind neu
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